Iwan Bunin - ein moderner Klassiker der russischen Literatur

I. Bunin als großer russischer Schriftsteller, durch Blut und Geist mit dem Wesen des russischen Volkes verbunden, Analyse der Tätigkeit. Merkmale der Traditionen der russischen Geisteskultur. Merkmale der russischen Poesie des 19. Jahrhunderts.

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Äàòà äîáàâëåíèÿ 23.01.2022
Ðàçìåð ôàéëà 27,3 K

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Ñòóäåíòû, àñïèðàíòû, ìîëîäûå ó÷åíûå, èñïîëüçóþùèå áàçó çíàíèé â ñâîåé ó÷åáå è ðàáîòå, áóäóò âàì î÷åíü áëàãîäàðíû.

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Iwan Bunin - ein moderner Klassiker der russischen Literatur

russischen kultur poesie

Von Prof. S. Frank (Berlin)

Prof. Simon Frank Berlin. Halensee Nestarstr

Als Ivan Bunin der diesjährige Nobelpreis für Literatur zugeteilt wurde, hörten sicherlich die meisten Nichtrussen diesen Namen zum ersten Mal. Betrachtet man als Maßstab für den Nobelpreis den Weltruhm, so hätten unter russischen Schriftstellern sicherlich Gorki oder Mereschkowsky mehr Recht darauf, als Bunin. Dennoch kann man das Nobelpreiskomite zu seiner Entscheidung nur beglückwünschen. Denn unter allen jetzt lebenden russischen Schriftstellern ist Bunin sowohl der schlechthin bedeutendste Dichter im Sinne eines reinen Künstlers (weder Gorki noch Mereschkowsky kommen - jeder aus ganz verschiedenen Gründen - als große schöpferische Künstler nicht in Betracht), als auch der einzige lebende Klassiker, der letzte Erbe der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Schon als Persönlichkeit, durch seine Abstammung und Erziehung, ist Bunin in den Traditionen der russischen geistigen Kultur auf ganz besondere Weise verwurzelt. Er ist kein Literat im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Er stammt aus einem uralten adeligen russischen Geschlechte und zwar gehört dieses Geschlecht zu demjenigen Zweig des russischen Adels, der nicht durch Glanzstellungen am Hof und große Reichtümer gewissermaßen eine abgesonderte Kaste bildete, sondern der in einer Reihe von Generationen durch Staats- und Kriegsdienst und insbesondere durch Bewirtschaftung der Landgüter in den verschlossenen zwei Jahrhunderten der Hauptträger der russischen Staats- und Kulturentwicklung war. Bemerkenswerter Weise stammen aus Adelsgeschlechtern dieser letzten Art fast alle Schöpfer und große Vertreter der russischen Literatur und des russischen geistigen Lebens im 19. Jahrhundert. Auch Bunins Geschlecht ist mit der russischen geistigen Kultur des 19. Jahrhunderts verflochten: der eigentliche Beginner der großen russischen Literatur, der romantische Dichter Schukowsky, war ein unehelicher Sohn eines Bunin - eines direkten Ahnen unseres Dichters. Durch Schukowsky bzw. dessen Vater steht Bunin in näher Verwandtschaft mit dem ersten russischen Philosophen Kirejewsky, dem Begründer der nationalen Tradition der russischen Philosophie. In Bunins Blut liegt also gleichsam erbliche geistige Bildung und zugleich Gebundenheit an die Scholle, an das russische Bauernvolkstum, in dessen Nähe seine Ahnen auf ihren Gutshöfen lebten. Auch Bunin selber ist auf dem Lande aufgewachsen und hat seine Kindheit und Jugend um Dorf oder in kleinen Provinzstädten verbracht. Diese urwüchsige Verbundenheit gleichsam mit der russischen nationalen Substanz in ihren zwei Hauptträgern - dem gebildeten Landadel und dem Bauerntum - erklärt vieles in Bunins künstlerisch-geistigem Wesen. Aus ihr stammt zunächst Sprachmeisterschaft. Er beherrscht wie wenige die russische Sprache zugleich in ihren zwei Strömen: die von Puschkin und seinen Nachfolgern geschaffene Sprache der russischen Literatur und Bildung - in all ihrer Reichhaltigkeit, Biegsamkeit und Ausdrucksfähigkeit für geistige und seelische Realitäten - und die ganz eigenartige, prägnante, noch viel reichhaltigere Sprache des Bauerntums nicht nur in der ganzen Fülle ihrer dem Städter unverständlichen Spezialausdrücke für Bauernwirtschaft und Lebenssitten, sondern auch in ihrem eigenartigen Satzbau, in dem die Verworrenheit, die insti[n]ktartige Irrationalität der Bauernpsyche sich abspiegelt.

Wahre Sprachmeisterschaft steht aber beim Dichter in nächster Beziehung zur allgemeinen Meisterschaft der künstlerischen Form. Im Gegensatz zu den meisten anderen - auch den begabtesten - modernen russischen Schriftstellern, die ihre künstlerischen Lebensbilder in Form einer unmittelbaren Intuition, gleichsam als formlose, durch zufälligen Griff aus dem Leben herausgerissene, ungeschliffene Fragmente dem Leser vorlegen, besitzt Bunin die große Kunstfertigkeit der Bearbeitung, der künstlerischen Formgebung, und ist eben in diesem Sinne ein „Klassiker“.

Dieser Zug von Bunins Schaffen hat oft zur Meinung verleitet, Bunin sei „Klassiker“ im üblen Sinne des Wortes, ein geistig kalter Meister der „reinen“, inhaltsleeren Form, ein kühl-objektiver Darsteller, dessen dichterische Intuitionen keine Wurzeln in der Tiefe des persönlichen seelischen Erlebnisses, des Gemüts haben. Einige frühere Werke Bunins und insbesondere seine kühlen und geschliffenen lyrischen Gedichte gaben allerdings Anlass zu einer solchen Meinung. Zieht man aber seine besten Werke in Betracht, insbesondere der letzten Periode, so erweist sich diese Auffassung als ganz falsch. Bunin selbst hat einmal sein künstlerisches Bekenntnis in den Worten niedergelegt: „Die meisten Schriftsteller, selbst die berühmtesten, sind nur Erzähler, also haben mit dem, was würdig ist, Kunst genannt zu werden, überhaupt nichts gemein. Denn Kunst ist Gebet, Musik, Gesang der Seele“. Tatsächlich ist Bunin seinem echten Wesen nach, wie wir weiter sehen werden, ein Lyriker mit philosophischem Einschlag, ein Bekenntnisdichter. Dass dies nicht auf den ersten Blick bemerkt wird, dass Bunin es meistens versteht, seine lyrische Stimmung hinter nüchtern-objektiver Darstellung zu verbergen - das zeugt eben von seiner großen künstlerischen Meisterschaft. Das Bedürfnis und die Fähigkeit, die Subjektivität, das Intim-Innerste der Persönlichkeit in sachlichallgemeingültigen Bildern und Erkenntnissen des objektiven Seins abzuspiegeln und auszudrücken ist ja gerade das Grundwesen eines wahren Künstlers. Bunin bekennt sich zu dem Ausdruck seines älteren Freundes, des Novellisten Tschechov: „um zu schreiben, muss man kühl wie Eis sein“. Er ist darin ein wahrer Nachfolger des größten russischen Dichters Puschkin, der den Wesensunterschied zwischen kühler, sachlicher, dichterischer Inspiration und subjektiver Entzückung betonte, und im Ausmaß eines unvergleichlichen Genies die Fähigkeit besaß, die Tragik und die religiöse Weisheit einer großen Seele in heiter-nüchterner Form eines alle Lebenstöne unvoreingenommen treu wiedergebenden „Echos der Welt“ ausklingen zu lassen.

Am nächsten steht aber Bunins dichterische Art der großartigen Dichtung Tolstois, des schlechthin größten russischen Romanschriftstellers (denn bei Dostojewsky überwiegt doch bei Weitem der religiöse Ringer und Denker den reinen Künstler). Tolstoi, der als religiöse Persönlichkeit an der Welt stets tief leidet und in seinem Alter aus persönlichem Heilsbedürfnis einen geradezu titanischen Kampf gegen die gesamte Weltordnung eröffnet, ist als Künstler ein Halbgott, mit magisch-hellseherischer Begabung, die ihn befähigt, ein künstlerisches Weltbild zu schaffen, das durch seine Horizont weite, seine unerschöpfliche Reichhaltigkeit und insbesondere durch das untrüglich-sichere Erfühlen der Realität den Eindruck fast einer zweiten Weltschöpfung hinterlässt. Freilich erreicht Bunins künstlerische Kraft sozusagen in quantitativer Hinsicht bei Weitem nicht die von Tolstoi: bei Bunin überblicken wir nie die gesamte Welt in ihrer unendlichen Buntheit, in den Wechselwirkungen und Schicksalskreuzungen ihrer Gestalten, in dem breiten dynamischen Abfluss ihres Geschehens. Was Bunin gibt, sind Einzelausschnitte der Welt und meistens unbewegliche, gleichsam einzelne Portraits und Landschaftsbilder3. Bunin ist kein Meister der spannenden Handlung, der dramatischen Lebensschilderung: in seinen Novellen gibt es entweder überhaupt keine Handlung, oder jedenfalls spielt sie eine sekundäre Rolle, als Mittel, die an sich unbewegliche Gestalt zu erläutern (deshalb lässt Bunin meistens seine Gestalten selber ihre Erlebnisse erzählen). Sieht man aber von diesem (künstlerisch allerdings sehr wesentlichem) Unterschiede ab, so zeichnet sich Bunins Kunst durch zwei Hauptzüge aus, die am meisten für Tolstois geniale Art wesentlich sind: durch einen unerbittlich-nüchternen, gleichsam mit Späheraugen die wahre Wirklichkeit entlarvenden Realismus - und zugleich durch eine diesen Realismus von vornherein ergänzende und vertiefende Naturmystik.

Der Realismus der russischen Literatur überhaupt, der durch seinen Scharfsinn und Tiefblick zum Vorbild für die gesamte europäische Literatur wurde, ist mehr als eine rein-ästhetische Richtung; er entspricht irgendwie dem tiefsten religiös-ethischen Bedürfnis des russischen Geistes, ist eine für die russische Eigenart schlechthin charakteristische Erscheinung. Trotz aller Neigung zur Mystik. Schwärmerei und Phantastik, die dem westeuropäischen Menschen am russischen Wesen am meisten auffällt, zeichnet sich der russische Geist doch zugleich durch eine merkwürdige Nüchternheit der Wirklichkeitserkenntnis aus; ja, zum Wesen des russischen Geistes gehört geradezu ein leidenschaftliches Streben, alles Unechte, Scheinbare, Konventionelle zu verwerfen, von der Realität alle ihre Hülle abzustreifen, um nichts als die nackte Wahrheit zu erfassen und zu behaupten. Puschkin erhebt zum Prinzip seines Schaffens „den Reiz der nackten Wahrheit“, und Tolstois Pathos, sowohl in der Kunst, als in der Moral wird vom ihm in Worten ausgedrückt: „nichts ist erhaben, was nicht schlicht und wahrhaftig ist“. Das Prinzip der schlichten Wahrheit kann aber zu verschiedenen Ergebnissen führen, je nach der Dimension der Realität, die die Erkenntnis dabei erfasst. Auch der aller empirischgegenständlichen Welt entfremdete Dostojewski, der seinen Blick in die verborgensten metaphysischen Tiefen des Geistes richtet, sucht „die Wahrheit“, behauptet von sich, er sei ein Realist - nur dass er die Wahrheit erfasst, die den meisten Menschen verborgen bleibt und ihnen als „unglaubhaft“ erscheint. Für Tolstoi aber, als Künstler, liegt die Wahrheit im sinnlich-naturhaften Wesen der Welt und des menschlichen Lebens. Mit Adleraugen erfasst er die feinsten Nuancen in den sichtbaren, sinnlichen Gestalten und Farben der Welt, spürt den im Unterbewusstsein schlummernden, von der trügerischen Oberschicht der konventionellen Ideenwelt verdeckten, sinnlich-triebhaften, tierisch-naturbedingten Regungen der menschlichen Seele nach. Tolstoi als Künstler ist ein Naturmensch, ein Heide, der im Äußersten und Inneren nur die Naturmächte kennt und sich in ihnen heimisch fühlt. Der Realismus seiner Kunst ist ein ästhetischer Ausdruck der unersättlichen sinnlichen Lebensgier, mit der er die Natur erfasst, sich aneignet, in sich ansaugt. Aber gerade deshalb paart sich bei ihm mit dem nüchternsten Realismus in der Darstellung der sinnlichen Wirklichkeit ein mystisches Naturgefühl. Die Natur wird nicht nur erblickt und äußerlich berührt, sondern in ihrem dunklen Urgrund erfühlt durch die innere Wesensverwandtschaft mit ihr des heidnischen Herzens, seiner Verwurzelung in ihr. Alle sichtbaren Gestalten und Farben der Welt, alle Gerüche und Tastempfindungen, alle Gesichtszüge, Gesten und Mienen der Menschen sind ihm Symbole und Offenbarungen des inneren kosmischen Lebens, in das er sich leidenschaftlich versenkt, um durch künstlerische Einführung in die kosmische Alleinheit seinen unersättlichen Lebensdurst, seine titanisch-grenzenlose Vitalität zu stillen.

Wir mussten Tolstois künstlerische Eigenart etwas ausführlicher beschreiben, weil sie am meisten für Bunins Kunst bestimmend ist. In dieser Paarung nämlich der scharfen nüchternen Beobachtungsgabe mit Naturmystik ist Bunin ein treuer Nachfolger und Wesensverwandter Tolstois. Freilich erreicht Bunin, wie sonst erwähnt, nicht die unendliche, allumfassende Weite von Tolstois Blick; insbesondere fehlt ihm meistens Tolstois magische Fähigkeit die dunklen Gründe von fremden und ganz verschiedenartigen Menschenherzen zu erschauen. Was das Menschenherz betrifft, so beschreibt Bunin fast ausnahmslos sein eigenes Inneres. Er besitzt aber

Tolstois Fähigkeit, durch genauste sinnlich-plastische Schilderungen des Äußeren eines Menschen und ein eindrucksvolles Bild von seinem Wesen zu verschaffen; und in seinen prägnanten, alle Nuancen mit fast unheimlicher Sicherheit erfassenden Naturbeschreibungen erreicht er vielleicht als einziger unter allen russischen Schriftstellern Tolstois unvergleichliche Sehschärfe. Auch ist bei ihm, wie bei Tolstoi, diese Sehschärfe mit mystischer Naturerfüllung verbunden. Auch er, wie Tolstoi, ist6 ein Naturmensch, man könnte fast sagen - ein großes menschliches Tier, das in der Natur alles erfasst, erreicht, erspürt, was den dumpfen Sinnen des gewöhnlichen Menschen verschossen bleibt; auch für ihn besteht ein instinktartiger, geheimnisvoller Zusammenhang, eine innere Wesensverwandtschaft zwischen den dunklen Regungen des menschlichen Herzens und dem sichtbar-unsichtbaren rätselvollen Wesen der Natur.

Diese Doppelheit von unerbittlich wahrheitstreuem nüchternem Realismus und mystischem Naturgefühl differenziert sich aber gewissermaßen bei Bunin zugleich zu zwei Hauptthemen seines Schaffens: das erste Thema, das zeitlich hauptsächlich in die ersten Jahre seines Talents fallt, ist das Wesen des russischen Bauern; das zweite, das seine späteren Werke erfüllt, ist Mystik der kosmischen Mächte, verbunden mit lyrischer Selbstbetrachtung. Der innere Zusammenhang dieser so verschiedenartigen Themen wird sich weiter von selbst ergeben. Wir wollen aber zuerst jedes der beiden Themen gesondert betrachten.

Was das erste betrifft, so steht damit Bunin wiederum im engsten Zusammenhang nicht nur mit der russischen Literatur, sondern mit der ganzen russischen Geistesgeschichte des XIX. Jahrhunderts. Seit mindestens hundert Jahren ist der russische Bauer das zentrale, alles beherrschende und zugleich das schmerzlichste Problem des russischen Geisteslebens. Der Bauer ist nämlich, wie es Turgenew einmal treffend bemerkt hat, für den gebildeten Russen, die ägyptische Sphinx, die an ihn mit der Forderung herantritt: „errate mein Rätsel oder ich verschlinge dich“. Das hat seine Erklärung in der ganzen sozialen und kulturellen Struktur des „petersburger“ Russlands, - nämlich in dem tiefen unüberbrückbaren Riss zwischen der kleinen gebildeten, in alle Feinheiten der westeuropäischen Kultur eingeweihten Schicht und der unzähligen Masse des in uralten dunklen Vorstellungen und Lebenssitten befangenen russischen Bauerntums. Wie eine einsame kleine Insel erhob sich aus dem unermesslichen dunklen Ozean des Bauerntums der russische gebildete Stand, der Träger des bewussten geistigen Lebens. Er fühlt sich selber irgendwie isoliert, dem urwüchsigen nationalen1 Boden entwurzelt und deshalb innerlich unsicher. Zugleich mit utopischen Träumereien, die ihm verlorengegangene Bodenständigkeit ersetzen sollen, geht das Streben einher, dem elementaren Volkstum sich wieder zu nähren, ja in ihm völlig aufzugehen. Das erfordert abers eben eine Lösung des Rätsels dieser Sphinx, und diese Lösung nimmt die Form einer Idealisierung des Bauerntums an. Vielleicht gerade aus dem Unsicherheitsgefühl des gebildeten Russen, nämlich zu seiner Verdrängung, entsteht ein Wunschbild vom Wesen des Bauern: er soll in urwüchsiger, bodenständiger, substanzhafter Form gerade die Ideale tragen und verwahren, an die der gebildete Russe in seiner Wurzellosigkeit sich hilflos lehnt. So entsteht die „Volkstümelei“ („Narodnitschestwo“), die Anbetung und Verherrlichung des Bauern, als eines Volksbildes, an das sich der Gebildete anlehnen, bei dem er in die Schule gehen müsse - eine merkwürdige und typische, alles russische Geistesleben beherrschende Richtung. Die Konservativen und die Radikalen wetteifern in dieser Bauernverehrung und freiwilliger Selbstunterordnung seinem vermeintlich vorbildlichen Wesen. Für die Konservativen ist der Bauer in seiner Demut und seinem Dulden der Träger der urwüchsig-christlichen Tugenden - ein Bollwerk gegen die hochmütigen und zersetzenden aufklärerischen Bestrebungen der Intellektuellen; für die Revolutionäre ist er die organische Potenz eines sozialistischen Lebensideals. Große, tiefschürfende Seelenkenner, wie Tolstoi und Dostojewsky, kühne, vorurteilsfreie Denker, wie Alexander Herzen, sind diesem Wunschbild, dieser für die ganze neuste Geschichte Russlands geradezu verhängnisvollen Illusion erlegen.

In diesem Wunschbild ist der russische Geist seiner besten Tugend - der unerschrocken nüchternen Wahrhaftigkeit - untreu geworden. Nur ganz vereinzelt und unerhört ertönten warnende Stimmen: der kühle und kluge Westler Turgenew prophezeite, der russische Bauer werde sich als schlimmste, weil sittlich ungebildete Abart des westeuropäischen Spießbürgers entpuppen, und setzte den Glauben an den Wert westlicher Bildung der abergläubischen Anbetung des Bauernschafspelzes entgegen. Der feinsinnige Sittenschilderer des Bauerntums, Gleb Uspensky, sprach, trotz seiner hingebenden Liebe zum Bauern, manche vom Standpunkt des herrschenden Dogmas häretische Ansichten aus. Erst in den 90-er Jahren des XIX. Jahrhunderts entstand die Geistesströmung eines im Gegensatz zur „Volkstümelei“ westlerisch gesinnter Sozialismus, und gleichzeitig hat Tschechow in seiner realistischen Novelle „Die Bauern“ mit dem gebildeten Wunschbild scharf gebrochen.

Hier setzt Bunins Werk ein. Bunin bricht endgültig mit der traditionellen Idealisierung des Bauern, mit sentimental-träumerischen, durch Mitleid und soziales Schuldbewusstsein bestimmter Beziehung des Intellektuellen zum Bauern. Seine Auffassung ist ganz nüchtern-realistisch. In Bunin wirkt sich zum ersten Mal, auch auf diesem Gebiet, die ehrliche Wahrhaftigkeit des großen russischen Realismus aus. Freilich gehört sein Werk schon einer anderen Epoche an. Bunin hatte vor sich nicht den stillen, ewig schweigenden Ozean des Bauerntums, in dessen Tiefe man die wunderbarsten Perlen vermuten konnte, sondern das durch Sturm aufgepeitschte dunkle Element des Bauerntums zur Zeit der Agrarunruhen und Revolten um 1905. In einer Reihe von Novellen schildert er das Dunkle, Sinnlose, Grausame, Unmenschliche im Wesen des Bauern. Der erste Eindruck war: der Bauer wird hier überhaupt nicht als Mensch, geschweige denn als heiliges und tugendhaftes Wesen, sondern als grausames Tier geschildert. Man klagte Bunin der Verleumdung an. Von Verleumdung kann aber schon deswegen keine Rede sein, weil Bunin - eine reine Künstlernatur - frei von jeglicher bewussten Tendenz ist: er beweist keine These, er klagt nicht an, er begnügt sich mit reiner Darstellung der Realität. Ja, in einem gewissen Sinne, gehört auch Bunins Bauernschilderung zur Tradition der russischen Geisteshaltung auf diesem Gebiet. Auch für ihn ist der Bauer eine „Sphinx“, ein dem gebildeten Menschen schlechthin unbegreifliches, rätselhaftes Wesen - nur dass Bunin eben das Hilflose und durch Wunschbilder irregeleitete „Raten“ um das Rätsel dieser Sphinx aufgibt und es durch eine Schilderung der Sphinx selber ersetzt. Dunkle, verworrene, durch Gewohnheit eingewurzelte oder triebhaft bedingte, aller Logik und bewussten Sittlichkeit bare Gedanken erfüllen die Bauernseele. Als ein im Boden verwurzeltes Gewächs, steht sie jenseits von Vernunft und sittlichem Urteil, jenseits vom logischen und moralischen Verantwortungsbewusstsein. Der Bauer besitzt verworrene, aus langer Tradition stammende religiöse Vorstellungen, aber kein bewusstes, genuines, religiöses Gefühl. Zugleich ist er gewohnt, das Leben als etwas Sinnloses aufzufassen und auch selber sinnlos dahinzuleben. Er ist unfähig, sich als verantwortungsvolles vernünftiges Wesen über diesen dunklen Strom zu erheben und durch vernünftige Gründe, durch ideale Werturteile sein Benehmen zu bestimmen. Er ist gewohnt, die größte Grausamkeit, die empörendste Ungerechtigkeit sowohl zu dulden, als auch selber zu verüben. Seine grenzenlose Schicksalsergebenheit ist nicht so sehr durch religiöse Demut, als durch dumpfe Passivität des Geistes bedingt; und zugleich ist er, als ein schlaues Tier, ein herzloser Zyniker, bei dem das triebhaft-selbstverständliche Streben nach materiellem Vorteil alle idealen Wertschätzungen verdrängt.

Es ist ein düsteres Bild, das Bunin hier malt. Das wahrhaft Schaudererregende darin liegt aber nicht, wie man so oft gemeint hat, in einer sittlichen Anklage gegen die Bauern, sondern in der Darstellung seines schlechthin irrationalen, für den menschlichen Verstand und Geist unbegreiflichen naturhaften und in diesem Sinne tierhaften10 Wesens. Nicht dass der Bauer bisweilen menschlos-grausam - und zwar ohne jedes Reuegefühl - sein kann, ist für Bunins Bauernbild wesentlich, sondern dass er überhaupt eine von dunklen, kosmischen Trieben geleitete Naturerscheinung ist, die gleichsam von vornherein jenseits des Elements der Sittlichkeit und Vernunft steht - ein Wesen, dessen Inneres im Bösen, wie im Guten nur von irrationalen kosmischen Mächten beherrscht wird. Dass dem so ist, erhellt schon daraus, dass Bunin zuweilen versteht, dies kosmische Wesen des Bauern auch von seiner lichten, erhebenden Seite aufzufassen. In einer wunderbaren späteren Novelle „Gottes Baum“ ergänzt Bunin seine Bauernauffassung durch eine bedeutsame Korrektur. Es wird hier eine Bauerngestalt geschildert, deren Wesen gleichsam in der Mitte steht zwischen zwei klassischen Typen der Bauernseele bei Tolstoi - zwischen der naturverbundenen-heidnischen Weisheit des alten Jägers Je- roschka in den „Kosaken“ und der erhabenen christlich-demütigen Volksweisheit von Platon Karatajew (in „Krieg und Frieden“): eine stets heitere und ruhige, allen Freuden der Welt erschlossene und zugleich in festem, erhabenem Gleichtun alles erduldende Seele eines weisen alten Bauern, der sich selber einen „Baum Gottes“ nennt. Philosophisch deutend darf man wohl sagen: insofern das Kosmische nicht nur etwas durch seine Irrationalität, Schaudererregendes, sondern zugleich durch seine innere Festigkeit, die ontologische Unmittelbarkeit seiner Beziehung zum Schöpfer etwas Erhabenes ist, das dem schwankenden, leidenden, innerlich gebrochenen menschlichen Selbstbewusstsein gewissermaßen zum ewigen Vorbild wird, kann auch die kosmisch gebundene Bauernseele eine Potenz entwickeln, die durch ihre unmittelbare Gottesnähe auf uns ergreifend und tröstend wirkt. Von hier aus ist es nur ein Schritt zum Erfassen des christlich-religiösen Kerns der russischen Volksseele. Und eine auf zwei Seiten zusammengedrängte Skizze der Gestalt eines russischen Bauernheiligen mündet bei Bunin in die begeisterten Worte aus: „Nur Gott allein kennt das Maß der unsagbaren Schönheit einer russischen Seele!“.

Wir sehen also, dass das Thema „Bauer“ bei Bunin eigentlich nur eine empirische Einzelanwendung des allgemeinen Themas der Mystik der kosmischen Mächte ist. An diesem allgemeinen Thema, das, wie gesagt, in den Werken von Bunins letzter Periode behandelt wird, entfaltet sich Bunins künstlerische Begabung zur wahren Meisterschaft. Es zeugt überhaupt von der genuinen Schöpferkraft Bunins, dass seine Kunst gerade in den letzten 15 Jahren, in der Emigration, fern von unmittelbarer Berührung mit dem heimatlichen Boden, zur höchsten Vollendung gelangt. Hier haben wir zunächst mit einer Reihe von klassischen Novellen zu tun, die dem uralten Problem der erotischen Liebe gewidmet sind. Die Fähigkeit, dieser seit Jahrhunderten in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Gestaltungen in der Kunst behandelten Grunderscheinung des menschlichen Lebens neue Seiten abzugewinnen, kann gewissermaßen als untrüglicher Maßstab für die wahre Originalität eines Dichters gelten. Diese Fähigkeit muss Bunin im vollen Maße zugesprochen werden. Die Liebe ist für ihn wesentlich eine sinnliche Leidenschaft, die aber den Kern einer menschlichen Seele erfasst und ihn als eine große, unerbittlich-grausame und zugleich erhabene kosmische Macht beherrscht. Deshalb ist seine Schilderung ebenso fern vom puritanischen Moralismus oder sentimentaler Idealisierung, wie von Frivolität und epikureischer Genusssucht: sie ist im höchsten Grade sinnlich-realistisch und zugleich doch infolge ihrer metaphysisch-menschlichen Tiefe rein und tragisch-erhaben. Auf Bunins Schilderung sind Dostojewskys Worte über den Sinn der erotischen Schönheit anwendbar: „hier kämpft Satan mit Gott und das Schlachtfeld ist das Menschenherz“. Wie der ästhetisch-lichte, duftende, herzerfreuende Frühling in die durch fruchtbare Gewittermächte gesättigte Sommerschwüle übergeht, so verwandelt sich unmerklich die sinnlich-geistige Entzückung der ersten Liebesregungen in eine unerbittlich-grausame, dunkle, dämonische Macht, die dem menschlichen Herzen unsagbare Quälen bereitet und es schließlich zu Grunde richtet („Mitjas Liebe“, wo diese Parallele künstlerisch-meisterhaft durchgeführt wird; den Wendepunkt der Handlung bildet hier der Eindruck vom widerwärtigen nächtlichen Heulen und Lachen des Uhus, in dem das ungeheure teuflische Wesen der Sexualität, als kosmische Macht, der durch Liebe ergriffenen Menschenseele sich offenbart). Zugleich aber hat auch die Liebe, als kosmische Macht, ihre Lichte und erhebende Seite. Sie kann dem Menschen als Offenbarung der religiösen Bedeutsamkeit, der inneren Schönheit und Tiefe des Lebens erscheinen, die wegen der Trägheit des menschlichen Herzens nur für einen Augenblick durchleuchtet („Ida“), oder als eine Macht, die plötzlich, unerwartet und ««begreiflich den Menschen wie ein Sonnenstrich befällt und sein ganzes Leben erschüttert, es zugleich erhellt und unheilbar verwundert („Der Sonnenstrich“).

Noch tiefer zum Mittelpunkt von Bunins Schaffen führt eine andere Grunderscheinung der grausamen und erhabenen Mystik der kosmischen Mächte im Menschenleben: der Tod. In seiner dichterischen Autobiografie „Arssenjews Leben“ bekennt Bunin selber, er besitze in seinem Wesen eine ganz besondere Beziehung zum Tod. Er stellt sie im Zusammenhang mit der überwältigenden Macht seiner Lebensgier, seiner Unersättlichkeit im Erfassen und Einsaugen aller Lebenseindrücke. Menschen, sagt er, seien in dieser Hinsicht verschieden veranlagt: je mehr ein Wesen sich der Natur und dem Leben innerlich unabtrennbar verbunden fühlt, desto tiefer und schmerzlicher ahnt es nicht durch äußere Erfahrung, sondern durch geheimnisvoll intuitives, im Blut vererbtes Wissen die unbegreiflich grausame, erschütternde Erhabenheit des Todes. Schopenhauer nannte bekanntlich den Tod den eigentlichen „Musageten“ der Philosophie. Es gibt aber auch Dichter, für die der Tod ihr Musaget ist, und zu ihnen gehört Bunin. Der erste Band seines dichterischen Hauptwerkes, der erwähnten künstlerischen Autobiografie „Arssenjews Leben“ (unter dem Titel „Im Anbruch der Tage“ in deutscher Übersetzung bei Bruno Cassirer, Berlin, soeben erschienen) ist dichterisch umrahmt durch zwei Todesschilderungen - der ersten Begegnung mit dem Tod in der frühen Kindheit und - nachdem der Verfasser sein ganzes verflossenes Leben überspringt - des Eindrucks des Leichenbegängnisses des in Südfrankreich verstorbenen russischen Großfürsten Nikolaj Nikolajewitsch; und die Mitte des Werkes wird wiederum durch ausführliche Beschreibung eines Todesfalles markiert. Nicht das Sterben, als subjektives Erlebnis, wird von Bunin geschildert (wie es bei Tolstoi der Fall ist, der hellseherisch die Geheimnisse des Agonisierens durchblickt), sondern der Tod selber, als Erscheinung der Außenwelt, als Offenbarung eines furchtbaren mystischen Urgrundes des Seins. Die Gestalt der Leiche im Sarg, die düster-ehrfurchtsvolle Stille rings um sie, der widrige Verwesungsgeruch, vermischt mit Weihrauchduft, der traurig-klagende feierliche Gesang beim Leichenbegängnis - alles wird zum Symbol einer in der Natur verborgenen schrecklichen Ur- macht, die das ganze Leben beherrscht, irgendwie zu seinem Urwesen gehört. Der Tod wird dann plötzlich sichtbar, nicht nur an einer einzelnen Stelle, sondern in allen Natureindrücken; die gesamte Realität in ihrer Mannigfaltigkeit, lässt seine Allgegenwart spüren - ebenso wie auch die erotische Liebe als ein allgegenwärtiges Naturelement empfunden wird. Durch den Tod kommt im sinnlichen Bild der Welt erst das wahre innere Wesen der Realität zum Vorschein, und auch das Gotteserlebnis, das Ahnen des tiefsten und erhabensten Urgrundes des Seins, ist an die Intuition des Todes gebunden. Das Geheimnis des Lebens besteht eben darin, dass es unter den Fittichen des Todesengels steht, vom Tod umweht und erfüllt ist. In einer von Bunin besten und für seine künstlerische Entwicklung wesentlichen Novellen „Der Herr aus San-Francisco“ wird der plötzliche Tod eines modernen Amerikaners zum Markstein genommen, an dem sich Schein und ontologische Wirklichkeit scharf scheiden - die konventionelle, innerlich leere und trügerische Scheinwelt der Zivilisation und der furchtbare, stets todesnahe Ernst14 des echten, wahrhaften Seins in Natur- und Menschenleben.

Der Tod ist aber gleichsam nur der sichtbarste, am schärfsten in die Augen fallende Exponent eines allgemeineren, zum Urwesen des Seins gehörenden Zuges - der Vergänglichkeit. Jeder heidnisch-sinnliche, naturalistische Pantheismus ist von der unheilbaren Tragik der Vergänglichkeit durchweht. Je mehr ein Menschenherz verblutet es an der furchtbaren, unbegreiflichen Tatsache der universalen Vergänglichkeit. Alles, woran unser Herz hängt, vergeht, entschwindet, wird uns unwiederbringlich geraubt. Bunin ist der Dichter der Vergänglichkeit schlechthin. Gescheite Kritiker aus dem Lager des russischen Marxismus erklären das Wesen von Bunins Kunst dadurch, dass er dem absterbenden Adelsstand angehört, und sich an eine dem Vergehen geweihte Lebensordnung gebunden fühlt. Wir können uns eine sachliche Auseinandersetzung mit dieser jedenfalls nicht besonders tiefsinnigen Absicht hier ersparen. Wir können sogar das Wahre an ihr ruhig hinnehmen. Zweifellos ist Bunins Seele mit der eigenartigen, trotz mancher Härten, Ungerechtigkeiten und Mängel, unsagbar reizvollen, weitherzigen, in das Naturleben versenkten, alten russischen Lebensordnung, die jetzt schon der Vergangenheit angehört, unabtrennbar verbunden. Und seine künstlerische Weltauffassung ist von der Melancholie des Eindrucks eines absterbenden, zerbröckelnden, versinkenden Lebensstils durchdrungen. „Arssenjews Leben“ ist ein klassisches Meisterwerk, in dem sich lyrische Bekenntnisdichtung mit Sittenschilderung paart (es reiht sich den zwei früheren Meisterwerken der russischen Literatur dieser Art an - der „Familienchronik“ des alten Aksakov und Tolstois „Kindheit und Jugendjahre“; in der deutschen Literatur könnte man es etwa dem „Grünen Heinrich“ von Gottfried Keller vergleichen). Das Erwachen und Aufblühen einer jungen Menschenseele wird auf dem Hintergrund einer freilich-schönen Landschaft, einer reizend-idyllischen Lebensordnung geschildert; musikalische Klangfarbe ergibt sich aber hier aus der melancholischen Dissonanz zwischen dem persönlichen seelischen Aufblühen und dem es umgebenden allgemeinen Abwelken, der allmählichen, aber unaufhaltsamen Zerbröckelung der äußeren Lebensgrundlage. Bunin hat in diesem Werk, wie auch in manchen anderen, den Untergang eines schönen, schlichten und zugleich großartigen, mit intim-menschlichen Werten verbundenen Lebensstils verewigt; und das Werturteil über diese Dichtung hängt für jedes, durch engherzige dogmatische Vorurteile nicht verblendetes Bewusstsein wahrlich nicht davon ab, dass dieser Lebensstil der Vergangenheit und nicht der Zukunft angehört.

Dennoch hat das Motiv der Vergänglichkeit in Bunins Schaffen seinem Wesen nach einen allgemeineren, von den Zeitereignissen der russischen Geschichte ganz unabhängigen, nämlich metaphysisch-religiösen Sinn. Schließlich ist doch Vergänglichkeit der beherrschende Zug alles menschlichen Lebens; und alles Leben schlechthin steht unter der Tragik der Diskrepanz zwischen persönlicher vorwärtsstrebender Entwicklung und dem unwiederbringlichen Hinabgleiten von Allem, was uns lieb ist und mit unserer Seele verbunden ist, in den dunklen Abgrund der Vergangenheit. Dies ist die große Lebensproblematik, unter deren Zeichen Bunins Dichtung steht. Hier offenbart sich wieder seine Wesensverwandtschaft mit Tolstoi, aber auch sein Unterschied von ihm. Auch Tolstois geistiges Schaffen und Ringen ist - wie wir es aus seinen Bekenntnisschriften wissen - vom Eindruck der Vergänglichkeit alles Irdischen beherrscht; sein titanischer Geist entflammt in Empörung gegen die daraus folgende Sinnlosigkeit der ganzen Welt und des Menschenlebens, insofern es mit der Welt verwoben ist; in tiefem Groll verschließt er sich der gesamten Welt, deren sinnliche Schönheit er so unnachahmlich eindrucksvoll in seiner Kunst dargestellt hat, er verneint alles, was der Vergänglichkeit anheimfällt, - Staat und Recht, Kultur, Liebe, Schönheit, seine eigene große Kunst, um in öder weltfremder moralistischer Religiosität eine Zuflucht von der Tragik der Vergänglichkeit zu suchen. Bunin ist kein Titane des Geistes, er beginnt keinen Kampf mit den Weltmächten; resigniert-melancholisch bleibt er der Bedeutsamkeit dieser vergänglichen Welt treu. Aber auch seine Kunst ist ein geistiges Ringen mit der Vergänglichkeit, das zu einer eigenartigen Errungenschaft, freilich auf einem Kompromissweg, führt gerade wegen der Vergänglichkeit ist ihm Welt und Leben lieb; daraus erwächst gerade seine Kunst, die für ihn Verewigung, oder vielmehr Auferweckung - freilich nur in der ästhetisch-unsichtbaren Welt des menschlichen Geistes - des Vergänglichen wird. Seine Seele klammert sich verzweifelt an das Vergängliche; und da diese Welt in ihrer ganzen lieblichen Massivität, in ihrer plastischen lebendigen Fülle einmal nicht zu retten ist, so erwächst daraus das leidenschaftliche Bedürfnis, es im geistigen Bild zu neuem verklärten Leben aufzuerwecken. So wirkt sich gerade der verzweifelte leidenschaftliche Wille zum Leben im künstlerischen Schaffen aus. Bunins Kunst ist ihrem Wesen nach liebevolle Erinnerung, der durch ihre magische Macht die wahre geistige Auferweckung der Vergangenheit gelingt, und gerade deshalb erreicht er in der Form der Lebenserinnerung, in „Arssenjews Leben“ den Höhepunkt seiner Meisterschaft und schafft darin ein wahrhaft unsterbliches Kunstwerk. Er selbst spricht sich darüber klar aus im Vorwort zu seiner Novellensammlung „Rose von Jericho“ (1924), in der er aus Erinnerungen an seine Orientreise neue Gestalten formt:

„Zum Zeichen des Glaubens an das ewige Leben, an die Auferstehung, legte man ehemals im Orient die Rose von Jericho in die Särge, in die Gräber. - Seltsam: man nannte Rose, dazu noch Rose von Jericho, ein Knäuel trockener, stacheliger Stengel, ein ödes, hartes Gewächs, das im steinigen Sand am Toten Meere, in der Wüste am Rande der sinaitischen Berge wächst... Aber dieses wilde Gewächs ist wahrhaft wunderbar. Von seinem Boden ausgerissen, tausende Kilometer weit getragen, kann es viele Jahre trocken, grau und tot daliegen. Sobald man es aber ins Wasser versenkt, beginnt es sich zu beleben, es grünt, gibt kleine Blätter und hellrosa Blüten. Uns das arme menschliche Herz freut sich, tröstet sich: es gibt in der Welt keinen Tod, es gibt keine Vernichtung dessen, was einmal war, was lebte und atmete. - Rose von Jericho! Ins lebendige Wasser meines Herzens, in das reine Nass der Liebe, der Trauer und der Zärtlichkeit versenke ich die Wurzel und Stengeln meiner Vergangenheit - und wieder belebt sich wunderbar das geliebte Gewächs“.

Diese wunderbare Erscheinung - nicht einer äußerlichen Erinnerung an das Vergangene, sondern einer wahren Auferstehung des Dahingegangenen im Geist des Künstlers - setzt aber voraus, dass die Dinge der Welt - trotz ihrer dem Tod geweihten sinnlich-sichtbarer Leiblichkeit oder vielmehr gerade in ihr - dem menschlichen Geist wesensverwandt, weil selber Ausdruck und Offenbarung einer geistigen Urrealität sind. Bunins Dichtung - besonders in seinen wahrhaft musterhaften Naturbeschreibungen - ist von einer dogmatischen unbestimmten, von der gewöhnlichen gläubigen Frömmigkeit weit entfernt, aber doch sehr scharf künstlerisch ausgeprägten religiösen Weltauffassung beherrscht. Er erreicht gerade das, woran Tolstois titanischer Geist in zwei hoffnungslos getrennte zu einander feindselige Teile zerfiel: sein kosmisches Bewusstsein, seine Wahlverwandtschaft mit dem Naturleben führt ihn unmittelbar zum religiösen Bewusstsein: hinter dem Geschöpf, der Gestalt ahnt er ehrfurchtsvoll den unergründlichen Schöpfer und Gestalter. Unter diesem Zeichen steht insbesondere eins seiner Meisterwerke: die Schilderung von einer Orientreise. Er bereist das Heilige Land, sieht den Berg Sinai, von dem der Menschheit die ewigen Gebote Gottes verkündet wurden, wandert in Palästina in den Fußstapfen der alten Patriarchen, Aposteln und Jesu Christi - und ohne jeglichen inneren Zwang, ohne das Bewusstsein einer Pflicht zum Glauben zu besitzen, gelingt ihm auf Grund seines künstlerischen Empfindens das, was manchen Theologen und Gläubigen zum Stein des Anstoßes wurde: die Umgebung und die Gestalten der Vergangenheit, von der die heilige Geschichte spricht, erstehen vor seiner Einbildung in voller realistischer, wirklichkeitsnaher Lebendigkeit, ohne etwas von ihrer übermenschlichen, das menschliche Herz überwältigenden religiösen Bedeutsamkeit einzubüßen. Das Kosmische, das Leibliche verhüllt ihm nicht, sondern offenbart ihm das Göttliche gerade, weil die sinnliche Realität selber ihm so tief bedeutsam, gleichsam eine unmittelbare Offenbarung eines Urgeheimnisses ist, vor dem unser Herz in Ehrfurcht erbebt. Das, was die Menschen ihre Vernunft nennen, ist ihm etwas ganz nichtiges und armseliges im Vergleich mit der kosmischen Wuchtigkeit der Realität, die dem künstlerischen Gefühl sich offenbart. Mit melancholischer Ironie berichtet er einmal vom traurigen, allzumenschlichen Schicksal der „Göttin der Vernunft“ - einer kleinen französischen Schauspielerin, die zur Zeit des Konvents auf ein paar Tage zur „Göttin der Vernunft“ erhoben wurde, um bald in Armut und Vergessenheit zu sterben. Diese „Göttin der Vernunft“ war nicht als ein armseliges, den unerbittlichen Schicksalsmächten preis-

gegebenes Menschenkind, von dem, wie von allen Menschen, nur eins gesagt werden kann: „Was wissen wir, was können wir, was verstehen wir!“.

Bunin leidet an den unmittelbaren unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem pantheistisch gefassten irrationalen Urgrund der kosmischen Mächte und dem unausrottbaren Heilsbedürfnis des menschlichen Herzens; durch dieses Leiden ist die echt russische Melancholie seiner Kunst bestimmt. Er ahnt aber doch zugleich die tiefste religiöse Urrealität, die beides in ihrer unergründlichen Einheit umfasst. Wie er nicht nur elementare Gewalten, sondern auch den menschennahen Schöpfer in der Natur spürt, so ist er bisweilen auch imstande, Gott im tiefsten Inneren des menschlichen Herzens zu erblicken. Auch hier ist es für ihn wesentlich, hinter dem Menschlich-allzumenschlichen das Geheimnisvollübermenschliche, das Erhabene in Demut zu erfühlen, nur dass es sich hier zugleich als das Reine, Heilige, Tröstende offenbart (vgl. die schöne Skizze „Notre Dame de la Garde“). So wird Bunin zu einem merkwürdig getreuen Vertreter der russischen Geistesart, in der sich naturverbundenes metaphysisches Empfinden mit einem intimen christlichen religiösen Sinn paart.

Alles in Allem genommen: Bunin ist ein großer, durch Blut und Geist mit der Substanz des russischen Volkstums verbundener und eben deshalb allgemein-menschlich bedeutsamer Schriftsteller. Freilich ist er in der Reihe der großen russischen Dichter ein Epigone - gleichsam der letzte melancholisch verklingende Accord der großen Symphonie der russischen Dichtung des 19-Jahrhunderts. An sich aber, ohne Vergleich mit anderen Künstlern genommen und aus sich heraus beurteilt, ist er auf seine Art eine schöne und hochbedeutsame Erscheinung des russischen Geistes, in dem höchste künstlerische Meisterschaft dem urwüchsigen religiösen Lebensgefühl entspricht.

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