"Transcendental homelessness" in western modernist sonnets
The article deals with the fundamental existential topos of modernist poetry - "transcendental homelessness". The concept of transcendental homelessness goes back to the ideas of Kant, Schopenhauer, Nietzsche in Europe and to transcendentalism in America.
Рубрика | Литература |
Вид | статья |
Язык | английский |
Дата добавления | 10.05.2023 |
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“Transcendental homelessness” in western modernist sonnets
Tatiana N. Andreiushkina
Abstract
The article deals with the fundamental existential topos of modernist poetry - “transcendental homelessness” (“transzendentale Obdachlosigkeif is a term coined by G. Lukacs). The concept of transcendental homelessness goes back to the ideas of Kant, Schopenhauer, Nietzsche in Europe and to transcendentalism in America (Emerson, Thoreau). The idea of transcendental homelessness in relation to modernist poetry means transcendental abandonment, insecurity of man by God and society and is manifested both in European poetry and in the literature of the two Americas. A comparison of a number of texts reveals not only their intertextuali- ty, but also a lively dialogue between the texts and the authors (Hoddis, Lichtenstein, Klemm). The topos under study receives its culminating expression in the poems of the “end of the world” (Hoddis, Klemm, McLeish, etc.), based on Spengler's ideas about the “Untergang des Abendlandes” and Nietzsche's nihilism. German expressionists most vividly expressed the motif of the “end of the world” as a continuation of the mythological plot of the “Got- terdammerung”, captured by K. Pinthus in the anthology “Menschheitsdammerung” (1919/20). The topos finds its logical conclusion in epitaph sonnets (Ungaretti, Vallejo, Desnos, etc.). In poetological sonnets (Unamuno, Becher, Jimenez, Machado, etc.), poets attempt to get out of the situation of transcendental homelessness by appealing to the creative potential of language, by turning to the poetic tradition, and glorifying national poets. The sonnet, as a form most consistently supporting European poetic traditions, turned out to be the most acceptable poetic form for expressing the idea of the possibility of a dialogue between cultures and the acquisition of a language ark.
Keywords: transcendental homelessness, poetic creative activity; lyrical genres; poetical motifs; end of the world; epitaph sonnets; modernism; expressionism; poetological sonnets.
Аннотация
«ТРАНСЦЕНДЕНТАЛЬНАЯ БЕЗДОМНОСТЬ» В ЗАПАДНЫХ МОДЕРНИСТСКИХ СОНЕТАХ
Андреюшкина Т. Н.
Статья посвящена основополагающему экзистенциальному топосу модернистской поэзии - «трансцендентальной бездомности» (Лукач). Понятие трансцендентальной бездомности восходит к идеям Канта, Шопенгауэра, Ницше в Европе и трансцендентализму в Америке (Эмерсон, Торо). Идея трансцендентальной бездомности в приложении к модернистской поэзии означает запредельную (в прямом и переносном смысле слова) оставленность, покинутость человека богом и обществом и проявляется как в европейской поэзии, так и в литературе двух Америк. Сопоставление ряда текстов выявляет не только их интертекстуальные связи, но и живой диалог (Ходдис, Лихтенштейн, Клемм). Свое кульминационное выражение исследуемый топос получает в стихотворениях «конца света» (Ходдис, Клемм, Маклиш и др.), опирающихся на идеи О. Шпенглера о «закате Западного мира» и нигилизм Ницше. Немецкие экспрессионисты наиболее ярко выразили мотив «конца света» как продолжение мифологического сюжета «сумерек богов», запечатленного К. Пинтусом в антологии «Сумерки человечества» (1919/20). Логическое завершение топос находит в сонетах-эпитафиях (Унгаретти, Вальехо, Деснос и др.). В поэтологических сонетах (Унамуно, Бехер, Хименес, Мачадо и др.) поэтами предпринимается попытка выхода из ситуации трансцендентальной бездомности с помощью обращения к творческим потенциям языка, поэтической традиции, прославлению национальных поэтов. Сонет как форма, наиболее последовательно поддерживающая европейские поэтические традиции, оказалась наиболее приемлемой для выражения идеи возможности диалога культур и обретения языкового ковчега.
Ключевые слова: трансцендентальная бездомность; поэтическое творчество; лирические жанры; поэтические мотивы; конец света; сонеты-эпитафии; модернизм; экспрессионизм; поэтологические сонеты.
Einleitung
Die literarische Moderne entstand, wie allgemein angenommen, am Vorabend des Ersten Weltkriegs und erreichte ihre BlUtezeit in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts fast gleichzeitig in alien Landern Westeuropas und Amerikas [Simyan]. Die Frage der Ober- grenze der Moderne ist nicht gelost. Wie eini- ge Studien zeigen, leben modernistische Ideen bis in die 60er Jahre des XX. Jahrhun- derts [Friedrich 1996; Enzensberger 2002].
Die Moderne ist ein internationales Pha- nomen, das aus verschiedenen Stromungen und Schulen besteht (Symbolismus, Akmeis- mus, Futurismus, Kubismus, Imagismus, Ex- pressionismus, Konstruktivismus, Abstraktio- nismus, Dadaismus, Surrealismus usw.). Eu- ropa und insbesondere Paris (fur Lateinameri- kaner - auch Spanien) werden zum Zentrum der Kultur der Moderne. Der deutsche Ex- pressionismus hinterlasst bedeutende Spuren in der Entwicklung der modernen Poesie, wie insbesondere Kurt Pinthus' Anthologie deut- scher expressionistischer Poesie „Die Menschheitsdammerung“ zeigt, in der viele der im Folgenden analysierten Sonette enthal- ten sind. Der Titel des Buches zeugt davon, dass sich der Ersteller sowohl auf die mytho- logischen Motive von der „Gotterdammerung“ als auch auf die biblischen Vorstellungen vom „Weltuntergang“ („Wehe, es will Abend werden, und die Schatten werden lang“ (Jer. 6: 4) und Schopenhauers Vorstellungen von „der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens“ [Schopenhauer 2014] im „Abendland“ und Nietzsches Nihilismus stUtzt. Als Beispiel da- fur, wie „Dammerungs“-Ideen den gesamten Westen eingefangen haben, dienen „The Evening Land“, 1922) von D. G. Lawrence, „The
Waste Land“ von T. S. Eliot und andere
transcendental homelessness modernist sonnet
Der Begriff der „transzendentalen Ob- dachlosigkeit“, der auf die Ideen von Kant, Schopenhauer, Nietzsche in Europa und auf den Transzendentalismus in Amerika (R. W. Emerson, H. D. Thoreau) zurUckgeht, ist mit Freuds Begriff der „Angst“ verbunden: „Die Angst hat eine unverkennbare Beziehung zur Erwartung; sie ist Angst vor etwas“ [Freud 1926: 27]. Sie zeichnet sich durch „den Charak- ter von Unsicherheit und Sinnlosigkeit“ aus [ibidem]. Die Angst um die Jahrhundertwende wurde durch die Krise erzeugt. Die Angst vor dem Krieg und seiner Folgen aufierte am kras- sesten der deutsche Expressionismus, der in der Krisenzeit des „Weltuntergangs“ entstan- den war. Es ist schwer zu argumentieren, dass „weder wirtschaftliche noch politische Seiten unserer Kultur die Angst hemmen konnen“ [Tillich 2020: 185], aber man kann nur zustim- men, dass es in ihrer Macht liegt, sie auszudru.- cken und verstehen zu lassen, was die Expres- sionisten am besten gemacht haben.
Georg Lukacs' Hauptthese aus „Die Theo- rie des Romans" (1916) im Bezug auf den Be- griff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ [Lukacs 1971: 32] besteht darin, dass die moderne Welt im Vergleich zur Antike unendlich grofi geworden ist und ihre heimatliche Qua- litat verloren hat. Wenn das Epos Ausdruck einer ganzheitlichen Welterfahrung, einer vollendeten, abgerundeten, in sich geschlos- senen Kultur war, sei der Roman von der Er- fahrung der Moderne als Epoche des Frag- mentarischen, nicht zur Einheit Kommenden gepragt, die eine Diskrepanz zwischen Innen und Aufien, Ich und Welt widerspiegelt. Der Roman, so Lukacs, sei die Epopae des gottver- lassenen Welt im Gegensatz zur Totalitat und Geschlossenheit des griechischen Weltbildes, das transzendentale Wesensart ihres Lebens ausmacht [Ibid.: 24].
Der Topos der „transzendentalen Obdach- losigkeit“ lasst sich an strukturell und thema- tisch verwandten Textketten verdeutlichen und die Autoren aus verschiedenen Landern verei- nen. Analysieren wir eine Kette am Beispiel von Sonetttexten Uber die Zeit, Uber das Zeit- und Weltende. Die ersten beiden Texte - von Hoddis und Lichtenstein - sind gekUrzte Sonette. Typi- sche Merkmale des Genres realisieren sich durch umschlungene oder gekreuzte Reime mit alter- nierenden weiblichen und mannlichen Kaden- zen und 5-fUfiigen Jamben. Aneinander anklin- gende Reime und ein deutlicher Dialogismus verbinden die beiden Texte, was fur Sonettten- sonen typisch ist. In beiden Texten sind einige Dinge wichtig, die in spateren Sonetten aufge- griffen werden: ein Hut, der wie ein Dach vom Kopf fliegt; Sturm und Flut, Fallen der ZUge von Bracken in den Abgrund, GleichgUltigkeit der BUrger im Bezug auf die kommende Katastrophe.
Weltuntergangs- und Obdachlosigkeitsmotiv: Hoddis, Lichtenstein, Klemm, MacLeish.
Dieses Motiv taucht in dem Gedicht „Weltende“ (1911) von Jacob van Hoddis (18871942) auf, einem programmatischen Gedicht fUr Poesie der Moderne. Der erste Vierzeiler reimt sich umschlungen, der zweite - kreuz- weise (wir haben SchlUsselworter fett hervor- gehoben, die in anderen Texten zu diesem Thema wiederholt werden).
Dem BUrger fliegt vom spitzen Kopf der
Hut,
In allen LUften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker sturzen ab und gehn entzwei,
Und an den KUsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Damme zu zerdruCken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brucken
[Menschheitsdammerung 1996: 18].
Der Hut, der vom Kopf fliegt, die Dachdecker, die vom Dach fallen, ohne das Haus be- deckt oder das Dach befestigt zu haben, und der aufsteigende Storm kann es durchaus ab- reifien und wegtragen - das alles sind die ers- ten und wichtigen Metaphern der Obdachlo- sigkeit (das Wort „Obdachlosigkeit“ stammt vom „Dach“). DarUber hinaus bedroht die Flut die Menschheit erneut, das Meer dringt vor, um dicke Damme zu durchbrechen, ZUge stUr- zen von Bracken, aber die „Spitzkopfigen“ sind mit ihrer laufenden Nase besorgt. Die betref- fende Charakterisierung der Menschheit be- tont die Absurditat der „lesenden“ Menschen- welt, die glaubt, nicht getroffen zu werden, weil Katastrophen irgendwo weit von ihr pas- sieren. Der Leichtsinn von BUrgern, die den Ernst der Lage nicht verstehen und mit ihren kleinen Sorgen und Beschwerden beschaftigt sind, wird auch beilaufig ironisch thematisiert.
Das Thema „des Weltendes“ entwickelt Alfred Lichtenstein (1889-1914) in seinem Ge- dicht „Die Dammerung“ (1913), das ein Sonett imitiert. Drei Vierzeiler sind auch mit 5-fUfiigen Jamben und Kreuzreimen verfasst. Um einem englischen Sonett zu ahneln, fehlt nur ein abschliefiender Zweizeiler. Sein Name appelliert einerseits an die „Gotterdammerung“, andererseits zeigt er die „Menschheitsdamme- rung“ - so heifit auch Pinthus` Anthologie, wo- hin beide Gedichte aufgenommen wurden.
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als ware ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange KrUcken schiefherabgebUckt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld
zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht ver- ruckt.
Ein Pferdchen stolpert Uber eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein JUngling will ein weiches Weib besu- chen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde flu- chen [Lichtenstein 1962: 44].
„Die Dammerung“ von Lichtenstein ent- faltet einerseits den Text von Hoddis, indem der Verfasser den Umfang vergrofiert und den ganzen Tages- und Lebenszyklus des bUrgerli- chen Lebens aufzeigt. Andererseits be- schrankt Lichtenstein den genannten Zyklus auf einen aufzahlenden Katalog kleiner Dinge: „Sturm“ von Hoddis verwandelt sich in einen „Wind“ bei Lichtenstein, heruntergefallene Dachdecker werden hier zu zwei Invaliden, der Schrei des Himmels wird durch das visu- elle Bild des Himmels gleich einer verbum- melten Frau ersetzt, im Bild des „blonden
Poeten“ kann man Hoddis selber erkennen, der sein Leben in einer psychiatrischen Klinik beendete; die Eisenbahnwagen verwandeln sich in einen Kinderwagen. Auf solche Weise macht Lichtenstein die Situation noch bana- ler. Er reproduziert die bose Unendlichkeit des spiefibUrgerlichen Lebens.
„BUrger mit Schnupfen“ werden hier kon- kretisiert - vom Jungen Uber den jungen Mann, den dicken Mann bis zum alten Clown. In der letzten Strophe scheint ein Baby im Kin- derwagen bald ein dicker Junge zu werden, was uns zurUck zur ersten Strophe bringt. BerUck- sichtigt man die inneren Reimrollen in beiden Texten (Hund - Hut, Dame - Damme - Dammerung, verrUckt - BrUcke - zerdrU- cken - KrUcken, dicke - dicker), sowie die Sta- tik des Ding-Katalogs in Lichtensteins Gedicht in Vergleich mit dem dynamischen Bild der drohenden Katastrophe bei Hoddis wird der Ubergang Lichtensteins vom Expressionismus zum Surrealismus offensichtlich, fur den viele franzosische poetische Texte der Moderne ein Beispiel geben [Andreiushkina 2019: 64].
Die Blasse des verbummelten Himmels, dem, wie einer Frau, „Make-up abgenutzt ist“, geht aus Lichtensteins Gedicht in Klemms Text uber und bedeckt die Erde mit Blasse („die Lander sind bleich“). Der Wahnsinn der Welt und die Tricks des alten Clowns werden wieder spater von McLeish gefragt. Die These von Lukacs - „Verbrechen und Wahnsinn ist die Objektivierung transzendentaler Obdach- losigkeit“ [Lukacs 1920: 56], - angewendet auch auf Lichtensteins statischen Katalog, wird im Sonett „Meine Zeit“ (1916) von Wilhelm Klemm (1881-1968) ihre anschauliche Verkorperung finden. Klemm beschreibt nicht die natUrliche Totalitat, die Lukacs im Zusammenhang mit Homers Epos erwahnt, sondern diejenige, uber die Pinthus in der erwahnten Anthologie schreibt: „die schau- mende, chaotische, berstende Totalitat unse- rer Zeit“ [Menschheitsdammerung 1996: V]. Gesang und Riesenstadte, Traumlawinen, Verblafite Lander, Pole ohne Ruhm,
Die sundigen Weiber, Not und Heldentum, Gespensterbrauen, Sturm auf Eisen- schienen.
In Wolkenfernen trommeln die Propeller. Volker zerfliefien. BUcher werden Hexen. Die Seele schrumpft zu winzigen Kom- plexen.
Tot ist die Kunst, die Stunden kreisen schneller.
O meine Zeit! So namenlos zerrissen,
So ohne Stern, so daseinsarm im Wissen
Wie du, will keine, keine mir erscheinen.
Noch hob ihr Haupt so hoch niemals die Sphinx!
Du aber siehst am Wege rechts und links
Furchtlos vor Qual des Wahnsinns Abgrund weinen! [Menschheitsdammerung 1996: 4]
Die „berstende“ Totalitat in Klemms Text wird vermittelt durch:
- Aufzahlung verschiedener Phanomene als Spiegelbild des entstehenden Chaos, sowie bei Hoddis und Lichtenstein, als auch bei den franzosischen Surrealisten (z. B. bei J. Prevert in „Inventaire“) und bei A. Stramm in „Menschheit“ [Andreiushkina 2019: 64-66];
- kosmisches Denken: vom Himmel und von den Sternen bis zum Abgrund der Holle;
- geografische und historische Abde- ckung: Land von Pol zu Pol;
- historische Berichterstattung: Geschichte von Agypten bis zur Gegenwart, die sich durch negative Beinamen und Metaphern auszeichnet, die sowohl Sprengkraft als auch die Wertlosig- keit dieser Totalitat vermitteln (verblasst, zerrissen, zerfliefien; ohne Ruhm, ohne Stern, namenlos, daseinsarm, geschrumpft, Wahnsinn, Abgrund);
- eine Kulturschicht, die wenig vielver- sprechend prasentiert wird: BUcher-Hexen (die man bekanntlich 1933 zu verbrennen be- ginnt), Tod der Kunst;
- technischen Fortschritt: Propeller, Riesen- stadte, Eisenbahnboom, Beschleunigung der Zeit;
- die Welt am Scheideweg zwischen ei- nem zerfallenden Zustand (sUndige Frauen, Not) und Heldentum im Krieg;
- Zukunftsbilder: Eine mysteriose
Sphinx wartet auf eine Losung, und die Zeit geht furchtlos auf einem schmalen Pfad Uber einen Abgrund (bei Hoddis sind es Eisenbah- nen, die in den Abgrund fallen).
Wenn Hoddis, Klemm und Lichtenstein im Genre eines Katalogs im Stil der franzosi- schen Surrealisten Uber die Zeit schreiben und die Phanomene der chaotischen Realitat durch Kommas getrennt aufzahlen, entfaltet der Amerikaner Archibald MacLeish (1892- 1982) im Sonett „The end of the world“ (1926) ein leicht skizziertes Motiv Uber einen Clown bei Lichtenstein und schafft das Bild einer Zirkus-Welt. Die Metapher des Zirkus und der
einstUrzenden Zirkuskuppel gibt ein gahnen- des Symbol fur die „transzendentale Obdachlo- sigkeit“ der Menschheit. McLeish verwendet das simultane Modell der Darstellung von Ereignissen, das von Expressionisten weit ver- breitet wurde. Die Einfachheit seiner Bilder verbindet sich mit der Komplexitat der Meta- phern. Die vertraute Umgebung, wenn der Autor die Zirkusartisten beim Namen nennt, steht in scharfem Kontrast zu den Worten „there“ und „nothing" als eigentliche Definition von „transzendentaler Obdachlosigkeit“.
Quite unexpectedly as Vasserot the armless ambidextrian was lighting a match between his great and second toe and Ralph the lion was engaged in biting the neck of Madame Sossman while the drum pointed, and Teeny was about to cough in waltz-time swinging Jocko by the thumb - quite unexpectedly the top blew off:
And there, there overhead, there, there
hung over
those thousands of white faces, those dazed eyes,
there in the starless dark the poise, the hover,
there with vast wings across the canceled skies,
there in the sudden blackness the black pall of nothing, nothing, nothing - nothing at all [Museum 2002: 456].
Enzensbergers Ubersetzung dieses So- netts ist frei, hier fallen manche Wiederholun- gen aus, Zeilen werden ausgetauscht, einfache Worter werden durch Komposita ersetzt und einmal sogar in Klammern eingeschlossen usw., Reime bleiben dennoch erhalten: „Es kam ganz unerwartet, gerade als / Vasserot, das armlose Wunder, anriss / ein ZUndholz mit seinem linken Zeh, in den Hals / von Madame Sofimann Casar der Lowe biss // (Trommelwir- bel), als Teeny mit grofiem Hurra / seinen Partner am Daumen herumgeschnellt / im Walzertakt, und wollt eben husten, da / flog plotzlich davon das Zirkuszelt // und droben hing, es hing droben, es hing / uber geblende- ten Augen und Menschengewimmel, hing im sternlosen Dunkel und schwebte und ging / mit RiesenflUgeln nieder Uberm erloschnen Him- mel, / bis in der Finsternis nichts als das schwarze Bahr- / tuch aus nichts und nichts und wieder nichts war“ [ibid.: 457].
McLeish, der in den 1920er Jahren in Paris lebte, vereinigt die franzosischen und engli- schen Formen des Sonetts (das ist einerseits die Aufteilung in ein Oktett und ein Sextett und das Vorhandensein der 5-fufiigen Jamben, an- dererseits - Kreuzreime und ein Schluss- Couplet). Von einer Zirkusvorstellung handelt das Oktett, das alle gleichzeitig stattfindenden Aktionen beschreibt und in einen Knoten zieht, wenn die Kuppel, die den Zirkus bedeckt, zu- sammenbricht (der Oktettrahmen wird durch die Wiederholung des Adverbs „unexpectedly“ in den Zeilen 1 und 8 gebildet).
Sextett gibt ein Bild von der Beobachtung des Kuppelfluges am Nachthimmel (der Schreckeffekt wird erzeugt, indem man sie- benmal „there“ und viermal - „nothing“ in der Schlusszeile wiederholt; dadurch wird auch ein Rahmen bildet und 6 Zeilen in ein Sextett gezogen). Die Beschreibung der Katastrophe wird nicht nur von lexikalischen Wiederho- lungen begleitet, sondern auch von syntakti- schen Parallelismen, die das Entsetzen der Zuschauer vermitteln, die das apokalyptische Bild des „Weltuntergangs“ vor sich beobach- ten. McLeish verwendet erfolgreich die Idee der deutschen Romantiker vom Oktett als Spiegelbild des irdischen Lebens (McLeish macht den Zirkus zu seinem Symbol) und das Sextett mit seiner Richtung zum Himmel (aber in der Moderne entpuppt er sich als dunkel und leer) - des himmlischen.
Dieselbe Dunkelheit und Leere des Welt- alls und Einsamkeit des denkenden Menschen in der Welt empfindet der portugiesische Dichter Fernando Pessoa (1888-1935) im 18. Sonett aus der Sammlung „35 Sonette“ (1918). Die Emotionalitat wird hier durch die viermalige Wiederholung von „O“ („Perlen- tranen“, die noch aus der Zeit der italieni- schen Renaissance-Sonettistik bekannt sind) hervorgehoben. Dieses O verkorpert alle Be- griffe, die ein O enthalten: espago indefinido, noite, negro misterio, fluxo do tempo, abismo de silencio, vazio, escuriddo. Machado wird es spa- ter „eine grofie Null“ nennen.
Espago indefinido, que, por noite de mema substancia,
Num so negro misterio dois misterios vagos une;
As estrelas errantes, cuja luz inumeravel
Repete um misterio ate que a conjectura acabe;
O fluxo do tempo, conhecido por bolhas que estouram desde o nascimento;
O abismo de silencio, vazio sequer de nada; <...>
A prece do meu pensamento ve para alem
Da escuridao universal deserta e vasta [Pessoa].
Unbestimmter Raum, der bei Nacht von derselben Substanz / In einem einzigen schwarzen Geheimnis zwei vage Geheimnisse vereint; / Die wandernden Sterne, deren un- zahliges Licht / ein Geheimnis wiederholt, bis die Vermutung vorbei ist; / Der Fluss der Zeit, bekannt als durch Geburt platzende Blasen; / Der Abgrund der Stille, leer sogar von allem; / <...> Das Gebet meiner Gedanken sieht Uber die WUste hinaus / Die universelle Dunkel- heit, einsam und gewaltig (Ubersetzung des Autors des Artikels - T. A.).
Das Sonett vom „Weltende“ drUckte jene „ewige Einsamkeit der Seele“ eins zu eins mit der dUsteren Unendlichkeit des Kosmos aus, die Lukacs wie folgt formulierte: „Die Lyrik kann das Phanomenalwerden der ersten Natur ignorieren und aus der konstitutiven Kraft dieses Ignorierens heraus eine proteische Mytho- logie der substantiellen Subjektivitat schaffen: fur sie ist nur der grofie Augenblick da, und in diesem ist die sinnvolle Einheit von Natur und Seele oder ihr sinnvolles Getrenntsein, die notwendige und bejahte Einsamkeit der Seele ewig geworden: losgerissen von der wahllos abfliefienden Dauer, herausgehoben aus der trUb bedingten Vielheit der Dinge, gerinnt im lyrischen Augenblick die reinste Innerlichkeit der Seele zur Substanz, und die fremde und unerkennbare Natur ballt sich von innen ge- trieben zum durch und durch erleuchteten Symbol. Aber nur in den lyrischen Augenbli- cken ist diese Beziehung zwischen Seele und Natur herstellbar“ [Lukacs 1971: 54].
Diese Zeilen mUssen nicht nur an Sonette von McLeish oder Pessoa, sondern auch an Theodor Daublers Sonett „Einsamkeit“ Uber einen schweigsamen Wald erinnern, der nicht auf die Schreie eines Menschen reagiert.
Ich rufe! Echolos sind alle meine Stimmen.
Das ist ein alter, lauteleerer Wald.
Ich atme ja, doch gar nichts regt sich oder hallt.
Ich lebe, denn ich kann noch lauschen und ergrimmen [Menschheitsdammerung 2002: 63].
Epitaph-Sonette: Rilke, Ungaretti, Bach- mann, Arendt, Vallejo, Desnos.
Das Thema des Weltendes, verbunden mit dem Thema des Todes, fand seinen logischen Abschluss in einer Reihe von modernen Epi- taph-Sonetten. Im Zyklus „Sonette an Orpheus“ (1922) von R. М. Rilke - eigentlich einer ausfuhrlichen Inschrift auf den Grabstein der Tochter einer bekannten Balletttanzerin - wird das Sonett mit dem Dithyrambus konta- miniert. Der Zyklus spricht im Gegensatz zu anderen Epitaphen weniger vom Tod als vom Leben. Die Wahl eines symbolischen Helden fur den Zyklus hat wichtige Implikationen.
Die Essenz des griechischen Mythos, dessen wichtigster Dreh- und Angelpunkt, wie aus der Interpretation von Ovids „Meta- morphosen“ bekannt, das schmerzliche Ge- fuhl des Verlustes Eurydikes ist, verandert sich bei Rilke vollig. FUr Rilke weist der My- thos nicht auf eine unUberwindbare Kluft zwi- schen Lebenden und Toten hin, der Tod ist fUr ihn eher ein Eintritt in den in der Natur statt- findenden Ubergangsprozess zwischen Leben und Tod. FUr Rilke ist die kosmisch- metaphysische Funktion des grofien Sangers wichtig. Orpheus war berUhmt als Sanger und Musiker, ausgestattet mit der magischen Kraft der Kunst, der nicht nur Menschen und Gotter, sondern auch die Natur gehorchte.
Die Griechen vergotterten in Orpheus die Kraft des Singens, die die Toten aus dem Reich des Todes zurUckholen konnte. Und der Dichter will wie Orpheus die Dinge und Er- scheinungen der Welt durchs Singen beein- flussen. Der Zyklus Uber Orpheus singt zu Ehren des Lebens, der Kunst und ihrer le- bensvollen Kraft. Rilke will in Anlehnung an die etymologische Bedeutung des Wortes „Sonett“ die musikalische Bedeutung in die lyrische Gattung zurUckfUhren. Rilke glaubte an die transzendentale Kraft des Singens, die wie die platonische Idee in einer sich veran- dernden Welt vorkommt.
Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten, alles Vollendete fallt heim zum Uralten.
Uber dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
wahrt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier. [Rilke 2002: 86]
Wenn Orpheus singt, dient sein Gesang niemandem aufierhalb dieses Zwecks, sein
Gesang ist absolut, er bewegt sich in sich selbst und existiert um seiner selbst willen:
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind [Ibid.: 54].
Die Idee des absoluten Charakters des Sin- gens ist mit der Idee der Unsterblichkeit des Sangers verbunden, und der Mythos des „zerris- senen“ Gottes wird von Rilke auf das Sonettgen- re ubertragen, das sich bei Rilke durch innovative metrische Freiheit auszeichnet, was den inne- ren Zusammenhang zwischen der modernen Form und dem Inhalt des Zyklus betont.
Auch die Sammlung des Italieners Giuseppe Ungaretti, 1888-1970) „Freude“ („Alleg- ria“, 1914-1919/ voll hrsg. 1931) ist ambivalent. Im Vorwort der Sammlung kommentiert Ungaretti den Titel wie folgt: „Man sagt, der Name sei einfach, seltsam. Es ware seltsam, wenn nicht alles drumherum ein Schiffbruch ware, wenn nicht alles auf den Kopf gestellt, zerquetscht, von der Zeit zerrissen ware. Es ist Freude, dass ein Moment vergeht und ei- nen anderen erleben lasst. In diesem Moment entsteht die Freude des Augenblicks, die keine andere Empfindung haben wird als die Er- wartung des Todes“ <...> [U ngaretti 1969: 5].
Lukacs hat diesen «lyrischen Moment» perfekt ausgedrUckt: „Der lyrische Moment erstarrt, wird zu Substanz, und die fremde und unerkennbare Natur wird dank der Kraft der Seele in einem leuchtenden Symbol ver- korpert. Nur den lyrischen Texten geben sol- che Momente Basis und Form; nur in der Ly- rik offenbart dieser plotzliche Substanzaus- bruch unerwartet den SchlUssel zu den He- xenschriften; nur in den Texten wird das Sub- jekt, zu dem diese Erfahrung kommt, der ein- zige Trager von Bedeutung und wahrer Reali- tat“ [Lukacs 1920: 55]. Und weiter noch: „Diese Augenblicke sind nur fur die Lyrik konstitutiv und formbestimmend; nur in der Lyrik wird dieses unvermittelte Aufblitzen der Substanz zu einem plotzlichen Ablesbarwerden ver- schollener Urschriften; nur in der Lyrik wird das Subjekt, das dieses Erlebnis tragt, zum alleinigen Trager des Sinnes, zur einzig wah- ren Wirklichkeit“ [ibidem].
Die Thematik in Ungarettis Sammlung, die Krieg und Menschen unter unmenschli- chen, schrecklichen Bedingungen darstellt, ist ambivalent: Einerseits spiegelt sie die Grau- samkeit und den Tod des Krieges wider; ande- rerseits kommt darin ein wahnsinniger Uber- lebenswille, Durst nach Harmonie, Licht und Frieden zum Ausdruck. Darum werden diese Erinnerungen an den Tod und die Reflexionen Uber die geistige Suche zum Thema des trans- formierten Epitaph-Sonetts „Ich bin ein Ge- schopf Gottes“ („Sono una creatura“, 1917), das dem bekannten Genre der Ecce-Homo- Malerei mit der Darstellung von Christus in einer Dornenkrone ahnelt.
Come questa pietra del St. Michele cosi fredda cosi durra cosi prosciugata cosi refrattaria cosi totalmente disanimata Come questa pietra e il mio pianto che non si vede La morte si sconta vivendo [Museum 2002: 445].
In der deutschen Poesie ist dieses Sonett in der Ubersetzung von I. Bachmann („Ich bin eine Kreatur“) bekannt: „Wie dieser Stein / des Hl. Michael // so kalt/ so hart / so ausgetrock- net/ so widerstandig/ unbeseelt / so ganz und gar // Wie dieser Stein / ist mein Weinen / man sieht es nicht // Den Tod / bu.fit man / lebend ab“ [ibid.: 446].
GekUrzte Zeilen in Ungarettis Sonett, die jede der Definitionen isolieren und einen Kata- log von Adjektivdefinitionen fur Stein erstellen, deuten auf eine akzentuierte Lesart von Zeilen hin, die auf die gleiche Weise eingegeben wur- den (come, cosi), sowie Worter, die separate Zeilen bilden und mit Endreimen, Alliteration oder Assonanz schliefien (pietra - pianto, pietra - fredda, prosciugata - disanimata, fredda - fratta, si vede - vivendo, sconta - pianto).
Ans Sonett erinnern zwei Terzette, von denen das letzte die Sonettspitze ist. Darin werden wie in einem Epigramm die Hauptge- gensatze des Sonetts zusammengefuhrt und voneinander abhangig gemacht: Leben und Tod. „Der Name des hl. Michael ist kein Zu- fall. Neben der Mission der kampferischen FUrbitte fungiert er als Engel der Barmherzig- keit und Bittsteller der Menschen vor Gott. Er fungiert auch als FUhrer der Seelen, die er bis zu den Toren des himmlischen Jerusalems begleitet“ [Meletinskiy 1991: 370].
Diese innere Erstarrung des lyrischen Ich, der ohne Tranen schreit, der Tod im Leben, ist in den traditionellen Formen, die italienische Texte suggerierten, schwer zu vermitteln. Und Giuseppe Ungaretti vollzieht wahrhaft revolu- tionare Transformationen in der Poesie, vor allem auf der Ebene der Form, die mit der Reform des Verses von A. Stramm vergleichbar ist [Andreiushkina 2019: 63]. Aus dem Leben, so G. Simmel, „Jetzt erleben wir diese neue Phase des alten Kampfes, der nicht mehr Kampf der heute vom Leben gefUllten Form gegen die alte, leblos gewordene ist, sondern Kampf des Le- bens gegen die Form Uberhaupt, gegen das Prinzip der Form“ [Simmel 1918: 5].
Die Sammlung „L'Allegria“ umfasst alle in- novativen Momente, sowohl strukturelle und lexikalische als auch metrische und syntakti- sche, die in die italienische Poesie eingebracht werden. „Diese Erneuerung der Form, die die Sammlung zu einem SchlUsselwerk der italieni- schen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts macht und die durch Lakonisierung der Sprache zum reinen, nackten Wort kommt, diese Erneu- erung der Form erfolgt dank der Erfahrung des Krieges, der tragischen, grausamen Realitat, die sich in der Poesie konzentriert, unerwartete Erinnerungen, Assoziationen, Traume, Klum- pen vergessener GefUhle und Empfindungen komprimiert“ [Contini]. Gianfranco Contini stellt weiter fest, dass „“LAllegria“ durch eine vollige Ablehnung des asthetischen Elements gekennzeichnet ist, entsprechend der harten Position des Menschen am Rande von Leben und Tod (sehr oft im Einklang mit dem Zustand der Natur), was in einem grandiosen Schiffbruch auf einen Funken Optimismus“ trifft [ibidem].
Das Epitaph-Sonett „Die Dammerung“ von I. Bachman (1926-1973), geschrieben nach dem Tod eines Freundes, ist ein Beispiel fur Gegenbewegung und ein Beweis fur die ge- genseitige Beeinflussung modernistischer Dichter. Bachmann, die Ungarettis experi- mentelle Sonette Ubersetzte, war selbst Auto- rin von Sonetten, die ein modernistisches GefUhl fur das Ende der Zeit ausdrUcken. Ihr Sonett „Die Dammerung“ (wir denken gleich an „Die Dammerung“ von Lichtenstein) ba- siert auf dem Spiel von Licht und Schatten, Leben und Tod, Schwarz und Weifi, wie bei Vallejo oder Hernandez. Die Sonett-Strophen erfahren darin eine zusatzliche Unterteilung: Im ersten Vierzeiler und im Sextett treten die ersten Zeilen hervor und bilden isolierte Stro- phen, durch die sich die Grenze zwischen der Beschreibung von Nacht und Tag, dem endlo- sen schwarzen Raum eines imaginaren Tref- fens und dem dUsteren GrUn des Grabes am Morgen zieht. Die semantischen Akzente des Sonetts fallen auf die Einzeiler:
Auch die Graber sind verschwunden Schwarzer unendlicher Raum herabge- sunken, von diesem Balkon auf den Friedhof Da kommt es mir dass ich meinen arabischen Freund der sich gestern abend getotet hat wiedertreffe Wieder wird Tag Es kehren die Graber zurUck platt im dUsteren grUn der letzten Dunkelheiten im trUben GrUn der ersten Helle [Bachmann 1978: 519].
Ein weiteres Beispiel fUr den Einfluss spa- nischer moderner Poesie auf die Deutsche gibt Erich Arendt (1903-1984), der 1933 aus Deutschland emigrierte und 1936-1939 am spanischen BUrgerkrieg teilnahm. Bis 1933 schrieb er im expressionistischen Stil von A. Stramm. In der Emigration und nach dem Krieg seinen Stil andernd, bediente er sich traditioneller lyri- scher Formen. Arendt suchte neue Ausdrucks- formen und griff dabei auf seine Erfahrungen aus der franzosischen (Rimbaud), spanischen (Lorca, Aleixandre) und sogar sUdamerikani- schen Poesie (Neruda) zurUck, da er seine Exil- jahre in Kolumbien verbrachte. Sein Sonett „Barcelona, Marz 1938“, geschrieben unter dem Eindruck der Bombardierung Barcelonas durch die Francoisten, spiegelt die antifaschistisch- humanistischen Ansichten des Dichters wider. Formal ist es ein italienisches Sonett, das auf die klassische Form des Sonetts hinweist, aber die Metaphern enthalten eine expressionistische Konnotation. Wir treffen hier das bekannte Bild von aus Angst aufsteigenden Dachern:
Aufseufzt die Nacht. Ein schwarzer Meteor fallt todlich aus den kalten Sternenraumen, die Dacher heben sich in Angst empor, und MUtter fahren schreiend aus den Traumen.
Die Kinder aber sind nicht aufgewacht, da schlagen schon auf sie die schweren Blocke der Mauern ein - und blutgetrankte Rocke zerreifien unterm Steingewicht. Die Nacht <...> [Lyrik des Exils 1985: 186].
Arendts Epitaph-Sonett „Garcia Lorca“ ist dem grofien spanischen Dichter gewidmet, dem Autor der „Sonette u.ber obskure Liebe“ „Sonetos del amor oscuro“ (1936), der am 19. August 1936 von den Francoisten erschossen wurde. Arendt erwahnt Andalusien, wo der Dichter geboren wurde, und Granada, das er in seinen Gedichten besingt:
Du gruner Wind! Sang heifiblu.tiger Gi- tarren,
Du Mondlicht still, am Munde der Zi- geunerin! -
Mit einem Mal verweht - nun knarrt der Schinderkarren
hart durch Granadas Traum, den du be- sungen, hin <...> [ibid.: 129].
Ein weiteres Beispiel fur ein Epitaph- Sonett ist das spanischsprachige Epitaph des Peruaners Cesar Vallejo „Schwarzer Stein auf weifiem Stein“, in dem er seinen Hungertod 1938 in Paris prophezeiend fast genau be- schrieb. Vallejo (geboren 1892 in den nordli- chen Anden) zog 1923 nach Paris, wo er seinen Lebensunterhalt als Journalist und Reporter verdiente. Vallejo schloss sich zunachst den Surrealisten an, wechselte spater jedoch zum Marxismus. Ende der 20er Jahre ging er nach Spanien, wurde jedoch vom Franco-Regime verfolgt und kehrte 1936 nach Paris zurUck, wo er zwei Jahre spater an Krankheit und Armut starb. Vallejos „Humane Gedichte“ („Poemas humanos“, 1939) wurden nach seinem Tod in Paris und Mexiko veroffentlicht.
Me morire en Paris con aguacero, un dia del cual tengo ya el recuerdo.
Me morire en Paris - y no me corro - tal vez un jueves, como es hoy, de otono. Jueves sera, porque hoy, juves, que proso estos, los hu.meros me he puesto a la mala y, jamas como hoy, me he vuelto, con todo mi camino, a verme solo.
Cesar Vallejo ha muerto, le pegaben todos sin que el les haga nada; le daban duro con un palo y duro tambien con una soga; son testigos los dias jueves y los huesos humeros, la soledad, la lluvia, los caminos... [Museum 2002: 256].
In Enzensbergers Ubersetzung lautet das Gedicht so: „Ich werde sterben bei einem Wol- kenbruch in Paris / ich weifi heute schon wann, an welchen Tag. / Ich werde sterben in Paris, warum auch nicht, / vermutlich an einem Don- nersteg, wie heute, im Herbst. // Donnerstag wird es sein, denn heute, donnerstags, / da ich dies darlege, haben mir meine Knochen / so weh getan, wie meiner Lebtag noch nie, / heute hab ich mich allein gesehen, am Ende des We- ges. // Cesar Vallejo ist tot, sie haben alle auf ihn / eingeschlagen: er hat ihnen nichts getan; / sie haben ihm Saures gegeben mit einem Stock // und Saures mit einem Tau; die Don- nerstage / sind seine Zeugen, und seine Schul- terknochen, / der Regen, die Verlassenheit, und die Strafien...“ [ibid.: 257].
Das Sonett von Cesar Vallejo ist in italie- nisch-spanischer Tradition geschrieben, es weicht von den reinen Reimen der vorherigen Sonette ab, es enthalt zwei Vierzeiler und zwei Terzette, weibliche Reime und Assonanzen: im ersten Vierzeiler sind Paarreime zu unter- scheiden, im zweiten - umschlungene Reime und im Allgemeinen zwei fur Oktett typische Reime; im Sextett werden drei Reime zweimal wiederholt. Der Kontrast im Titel des Sonetts „Schwarzer Stein auf weifiem Stein“ entsteht durch das Gefuhl eines Peruaners, der in seiner Heimat fur die Rechte der Indianer kampfte, der sich unter den Europaern wiederfand, mit denen er viel Zeit verbrachte, lebend bald in Madrid, bald in Paris. „Die mehrkomponentige Schwarz-Weifi-Symbolik des Expressionismus vereinfachte nicht nur und weniger das Welt- bild, sondern offenbarte gleichzeitig die kom- plex korrelierte Integritat seiner tragenden StUtzen“ [Rossiyanow 2008: 637] (oder solcher Substanzen wie Gut und Bose, Seele und Kor- per, Geist und Materie usw. und das dramati- sche duale Wesen des Seins im Allgemeinen).
Ein weiteres Beispiel ist aus Frankreich. Das Schicksal von Robert Desnos (1900-1945) ist typisch fur seine Zeit. In den ersten Ge- dichtbanden verbindet sich formales Experi- mentieren im Geiste des Surrealismus mit dem Wunsch, den Burger zu schockieren, wodurch die Grundnormen der spiefiburger- lichen Moral ad absurdum gefuhrt werden. Die Liebe zur Volkssprache, der angeborene Geschmack und das Verlangen nach klassi- scher Klarheit liefien Desnos mit den Surrea- listen brechen. Der Dichter findet seinen wah- ren Stil voller philosophischer Reflexionen uber den Sinn des Lebens in den Sammlungen der 40er Jahre, die die komplexe geistige Welt seines Zeitgenossen widerspiegeln. Als aktiver Teilnehmer an der illegalen Arbeit der Resistance, Autor vieler verbreiteter satiri- scher Gedichte gegen die Besatzer wurde Desnos 1944 gefangengenommen, anschlie- fiend ins Gefangnis und weiter ins Konzentra- tionslager geworfen. Er starb einen Monat nach dem Krieg an Typhus. Nach dem Surrea- lismus wandte sich Desnos der Alltags- und Lyrik zu. Und wenn er im Liebestext dem ro- manischen Vorbild eines Sonetts folgt, dann greift er fur die Entstehung von „L'epitaphe“ (1944) auf das englische Sonett zurUck.
J'ai vecu dans ces temps et depuis mille annees
Je suis mort. Je vivais, non dechu mais traque.
Toute noblesse humaine etant empri- sonnee
J'etais libre parmi les esclaves masques.
J'ai vecu dans ces temps et pourtant j' etais libre.
Je regardais le fleuve et la terre et le ciel
Tourner autor de moi, garder leur equilibre
Et les saisons fournir leursa oiseaux et leur miel.
Vous qui vivez qu'avez-vous fait de ces fortunes?
Regrettez-vous les temps ou. je me de- battais?
Avez-vous cultive pour des moissons communes?
Avez-vous enrichi la ville oU j'abitais?
Vivants, ne craignez rien de moi, car je suis mort.
Rien ne survit de mon esprit ni de mon corps [Museum 2002: 262].
In Paul Celans Ubersetzung dieses So- netts bleiben Reime und Anderungen des Rhythmus wie im Original erhalten. Obwohl die Uberwiegenden Pronomen (ich und ihr) bei Celan in die Zeileninnere gelangen, bewahrt er dennoch sowohl ihre GegenUberstellung als auch ihre Wiederholungszahl: „Ich bin der Tote, der durch jene Zeiten schritt. / Vor tau- send Jahren. Aufrecht und gejagt. / Das Menschliche, von Mauern war's umragt. / Vermummte Sklaven rings - ich lebte mit. // In jenen Zeiten lebt ich - lebt ich frei. / Mein Auge sah die Erde, es sah zum Himmel auf, / ich sah, wie alles kreiste, ich sah den Wasser- lauf. / Die BlUte gab den Honig, der Vogel zog vorbei. // Mit alledem, ihr Menschen, was fingt ihr damit an? / Die Zeit, in der ich's schwer hatt', tragt ihr sie noch im Sinn? / Sat ihr die Saat gemeinsam und erntet jeder- mann? / 1st sie durch euch jetzt schoner, die Stadt, aus der ich bin? // Ihr Lebenden, ich leb nicht weiter, mein Geist nicht, nichts, was mein“ [ibid.: 263].
Poetologische Sonette: Unamuno, Becher, Jimenez, Machado
Poetologische Sonette sind ein Beispiel fur die Uberwindung der Obdachlosigkeit als mentale Kategorie. In einem Quevedo ge- widmeten Sonett aus dem Zyklus „Von Fuer- teventura nach Paris“ (1925) reflektiert M. Unamuno Uber die Kraft des Wortes, genahrt von der nationalen Tradition, die von Queve- do, Cervantes und anderen spanischen Schriftstellern und Dichtern vertreten wird. Palabras del idioma de Quevedo, henchidas de dobleces de sentido, cada una de vosotras es un nido de sutiles conceptos <...> [Unamuno] Worter aus der Quevedo-Sprache, / voll von Bedeutungen, / jedes von euch ist ein Nest / subtiler Konzepte (Ubersetzung des Autors des Artikels - T. A.).
Auch das Genre des Sonetts selbst ist mit seinen uralten Traditionen eine Rettung vor der Obdachlosigkeit. J. R. Becher (1891-1958) entwickelte sich vom Expressionismus zum Sozialistischen Realismus. Einer der produk- tivsten Sonettisten schrieb er viele hunderte Sonette und setzte sich auch theoretisch mit dem Sonett als Genre auseinander. Weithin bekannt ist sein „Sonett“, in dem er das Pha- nomen des Genres interpretiert: Das Sonett als „Symbol der Ordnungsmacht“ setzt sich durch, wenn es darum geht, bestimmte Ideen zu be- wahren, aufrechtzuerhalten, zu bekraftigen und dem Staat oder der Partei zu dienen.
Wenn Form nur ist: damit sie sich zer- sprenge
Und Ungestalt wird, wenn die Toten- wacht
Die Dichtung halt am eigenen Totenbett - Als dann erscheint, in seiner schweren Strenge,
Und wie das Sinnbild einer Ordnungs- macht
Als Rettung vor dem Chaos - das Sonett [Becher 1973: 13].
Und darin liegt eine einseitige Interpretation der Gattung, denn trotz der scheinba- ren Strenge der Form lasst das Sonett eine Vielzahl von Themen zu, die insbesondere mit Freiheits- und Experimentiergedanken ver- bunden sind, wie z. B. Bechers «Das trunkene Sonett» als Echo von «Le bateau ivre» (1871) von A. Rimbaud.
Jimenez' Sonettsammlung „Spirituelle Sonette“ („Sonetos Espirituales“, 1917), beste- hend aus 55 Sonetten, beginnt mit dem poeti- schen Sonett „Al soneto con mi alma“ („Ans Sonett mit meinem ganzen Herzen“). Dem Sonett geht ein Epigraph aus der Sonettsammlung „Das Haus des Lebens“ („The house of life“, 1881) von D. G. Rossetti voraus:
A sonnet is a moment's monument, Memorial from the Soul's eternity To one dead deathless hour [Rossetti].
Ein Sonett ist das Denkmal eines Augen- blicks, / Denkmal aus der Ewigkeit der Seele / Zu einer toten unsterblichen Stunde (Uberset- zung des Autors des Artikels - T. A.).
Zwei Vierzeiler in dem erwahnten Sonett Uber das Sonett enthalten Vergleiche ver- schiedener Phanomene mit ihrem inneren Wesen (FlUgel - Flug, Blume - Duft, Blau - Himmel, Melodie - Trost, Strom - Frische, Diamanten - Reichtum), mit der Sehnsucht der Seele, die im menschlichen Korper gefan- gen ist. In Terzetten bezieht sich der Dichter direkt auf das Sonett:
En ti, soneto, forma, esta ansia pura copia, como en un agua remansada, todas sus inmortales maravillas.
La claridad sin fin de su hermosura es, cual cielo de fuente, ilimitada en la limitation de tus orillas. [Jimenez]
In deiner Form, Sonett, ist dieses reine Verlangen / kopiert, wie in einem stillen Was- ser / all seine unsterblichen Wunder. // Die endlose Klarheit ihrer Schonheit / ist, wie ein Springbrunnenhimmel, unbegrenzt / in der Begrenzung deiner Ufer. (Ubersetzung des Autors des Artikels - T. A.).
So soll nach Jimenez die Form des So- netts innerhalb ihrer Grenzen die grenzenlose und endlose Bewegung der Seele widerspie- geln, die in jedem Phanomen der Natur und im Menschen vorhanden ist.
Meine Uberlegungen mochte ich mit dem Sonett des spanischen Dichters und Philoso- phen Antonio Machado (1875-1939) „Eine grofie Null“ („Al gran cero“, 1926) beenden, das vom
Namen des von Machado erfundenen Dichters Abel Martin geschrieben wurde und die oben analysierte Kette von Sonetten Uber das Ende der Welt fortsetzte. Aber hier geht der Dichter von einer neuen Situation aus: Der Dichter soll aus dem Nichts die Welt neu erschaffen. Der Dichter hat die Moglichkeit, mit seinem Lied Stille, Tod und Vergessen herauszufordern und Rilkes Ideen vom schaffenden Potenzial eines Dichters durchzufuhren.
Cuando el Ser que se es hizo la nada y riposo, que bien lo mereda ya tuvo el dia noche, y compania tuvo el hombre en la ausencia de la amada. Fiat umbra! Broto el pensar humano.
Y el huebo universal also, vario, ya sin color, desustanciado y frio, lleno de niebla ingravida, en su mano. Toma el cero integral, la hueca esfera, que has de mirar, si lo has de ver, erguido. Hoy que es espalda el lomo de tu fiera, y es el milagro del no ser cumplido, brinda, poeta, un canto de frontera a la muerte, al silencio y al olvido [Machado 2009: 190].
Als das Wesen, das Nichts gemacht hat / und sich erholte, was es verdient hat, / kam schon Tag der Nacht und Gesellschaft / leistete der Mann ihm in Abwesenheit der Geliebten. // Fiat Umbra! Das menschliche Denken ent- stand. / Und auch das Universalloch, leer, / farblos, abgestanden und kalt, / gefullt mit schwerelosem Nebel, kam auf seine Hand. // Nimm die ganzzahlige Null, die Hohlkugel, / schau sie an, wenn du sehen kannst, aufrecht. / Vorlaufig zeigt dein Tier den RUcken // und es ist das Wunder, nicht gefasst zu werden, / vor- tragen sollst du, Dichter, ein Grenzlied / von Tod, Schweigen und Vergessen. (Ubersetzung des Autors des Artikels - T. A.).
Das Sonett diente den Dichtern der Mo- derne als Verkorperung „der Unendlichkeit des Himmels in den endlichen Ufern des Flus- ses“ (Jimenez), also der Schonheit von Natur und Geist, und als Verkorperung der Kunst als Moment der Unendlichkeit im Endlichen. Modernistische Gedanken Uber das Ende der Welt und Vorstellungen vom Sonett, das die existenziellen, metaphysischen Reflexionen eines Menschen Uber sich selbst und die Welt ausdrUcken kann, sind heute, parallel zur heutigen Entwicklung von Geschichte und Gesellschaft, relevant.
So manifestieren sich in der Poesie der Moderne zwei Tendenzen - einerseits ihre Ver- bindung mit der traditionellen Poesie (insbe- sondere durch die Gattung des Sonetts), ande- rerseits ihre Ablehnung jeder Art „reiner Poesie“ und ein Appell ans Erfassen der Probleme und Kataklysmen der Zeit - zwei Weltkriege, die den Menschen Hunger, Tod, erzwungene Auswan- derung usw. brachten. Beide Trends berUck- sichtigend trugen moderne Dichter zum Aus- druck der Ideen der „transzendentalen Obdach- losigkeit“, des „Weltuntergangs“ aus, die sich in poetischen Zeit-/Weltende-Sonetten und Epi- taph-Sonetten niederschlugen. Poetologische Sonette ermoglichten den Sonettisten einen Ausweg aus der Sackgasse, in der sich die Ideo- logie der Dekadenz als Bestandteil der Moderne befand. Das Vertrauen auf nationale Traditio- nen, konventionelle Genres (darunter auch Me- tasonette) verhalfen ihnen ihre krisenhafte Wahrnehmung der Welt zu uberwinden.
Lukacs' Vorstellungen von der „transzen- dentalen Obdachlosigkeit“ und seine subtilen Beobachtungen der Lyrik seiner Zeit erwiesen sich als produktiv fur die Analyse der moder- nen Poesie, trotz der Tatsache, dass er in den 30er Jahren eine Diskussion Uber den Expressi- onismus fuhrte und sich gegen den avantgar- distischen Formalismus wandte und sein ver- meintlich konterrevolutionares Programm im Werk „Grofie und Fall des Expressionismus“ (1934) naher an die NS-Ideologie brachte. In den 1940-50er Jahren aber milderte er seine Haltung gegenUber dieser literarischen Bewe- gung, indem er einerseits kritisiert wurde, an- dererseits die antimilitaristischen, rebellischen Bestrebungen vieler Expressionisten, J. R. Be- cher insbesondere, verstand. Lukacs bevorzug- te auch weiterhin den Realismus, kritisierte jedoch dessen Stereotypen und betonte die Be- deutung des personlichen Prinzips, der kUnstle- rischen Intuition und der Fantasie, die sich im Expressionismus deutlich manifestierten.
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