Розенцвейг и Лютер. Понятие веры в перспективе "нового мышления" и перевода Библии
Рассмотрение спорных вопросов теологии и философии в "Звезде избавления" Розенцвейга. Прочтение Розенцвейгом "Веры Лютера" Рикарды Хух. "Онемечивание" Розенцвейгом еврейской Библии, предпринятое вместе с Бубером, с помощью "немецкой Библии" Лютера.
Рубрика | Религия и мифология |
Вид | статья |
Язык | немецкий |
Дата добавления | 28.07.2023 |
Размер файла | 62,2 K |
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Rosenzweig und Luther. Der Glaubensbegriff in der Perspektive des „neuen Denkens“ und der Bibeltibersetzung
Hans Martin Dober
Abstract
In seinem „Stern der Erlosung“ setzt sich Franz Rosenzweig nicht nur mit der Philosophie auseinander, sondern auch mit der Theologie. Neben Augustinus und Friedrich Schleiermacher war Martin Luther der Gegentiber, vor dem er sein dialogisches „neues Denken“ entwickelte. Der Essay verfolgt die Spuren dieses Streits in Rosenzweigs Briefen, um sich hier auf seine Lekttire von Ricarda Huchs „Luthers Glauben“ zu fokussieren. Nachher wird dieses Literaturbild auf die Luthers Reformationstheologie bezogen, wie sie in der heutigen Forschung hervortritt. Im nachsten Schritt wird der „Stern“ als ein Buch betrachtet, das auf der einen Seite viel der bisherigen Lutherrezeption verdankt, auf der anderen aber das Denken des Reformators auch in einem neuen Licht erscheinen lasst. SchlieBlich werden die spaten Schriften tiber die Ubersetzungsprobleme in Betracht gezogen, um Rosenzweigs „Verdeutschung“ der hebraischen Bibel, die er gemeinsam mit Martin Buber mithilfe Luthers „Deutscher Bibel“ unternahm, zu rechtfertigen.
Schlagworter: Martin Luther, Judaismus, Glauben, Bibel, Ubersetzung, Hermeneutik, Rosenzweig, Der Stern der Erlosung
Аннотация
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Розенцвейг и Лютер. Понятие веры в перспективе «нового мышления» и перевода Библии
Ганс Мартин Добер
В своей «Звезде избавления» Розенцвейг вступает в спор не только с философией, но и с теологией. Наряду с Августином и Фридрихом Шлейермахером Мартин Лютер был тем двойником, перед лицом которого он развивал свое диалогическое «новое мышление». Эссе носит следы этого спора в письмах, фокусируясь здесь на прочтении Розенцвейгом «Веры Лютера» Рикарды Хух. Эта литературная картина затем соотносится с теологией Реформации Лютера, как она возникает из современных исследований. На следующем этапе «Звезда» интерпретируется как книга, которая, с одной стороны, во многом обязана предыдущему восприятию Лютера, но, с другой стороны, также показывает мышление реформатора в новом свете. Наконец, поздние работы по проблеме перевода принимаются во внимание для того, чтобы оправдать «онемечивание» (Verdeutschung) Розенцвейгом еврейской Библии, предпринятое вместе с Бубером, с помощью «немецкой Библии» Лютера.
Ключевые слова: Мартин Лютер, иудаизм, вера, Библия, перевод, герменевтика, Розенцвейг, Звезда избавления
Abstract
Rosenzweig and Luther. The Concept of Faith in the Perspective of «New Thinking» and Bible Translation
Hans Martin Dober
In his “The Star of Redemption”, Rosenzweig engages not only in an argument with philosophy, but also with theology. Next to Augustine and Friedrich Schleiermacher Martin Luther was a counterpart in whose face he developed his dialogical “new thinking”. The essay takes up the traces of this dispute in the letters to focus here on Rosenzweig's reading of Ricarda Huch's “Luther's Faith”. This literary picture is then related in a sketch to Luther's Reformation theology as it emerges from contemporary research. In a next step, the “Star” is interpreted as a book that, on the one hand, owes much to a previous reception of Luther, but on the other hand, also shows the Reformator's thinking in a new light. Finally, the late writings on the problem of translation come into view in order to justify Rosenzweig's “Verdeutschung” of the Hebrew Bible, undertaken together with Buber, to Luther's “German Bible”.
Keywords: Martin Luther, Judaism, faith, Bible, translation, hermeneutics, Rosenzweig, The Star of Redemption
„Romanthema“ und „Lebensthema“
Die Lekttire von Ricarda Huchs „Luthers Glaube“ ^1916) im Januar 1917 muss ftir Rosenzweig einschlagig gewesen sein [1]. „Das ist ja ein kolossales Buch“\ schreibt er an die Eltern; „ich bin ganz weg davon“, heiBt es zwei Wochen spater an Rudolf Ehrenberg [2. Band I/1, S. 340]. „Philosophie in ftihlbarer
Romanform“ sei das (ebd.), und nur an diese Form konne er „nach 1831“, nach Hegel also „(bzw. nach Schellings Todesjahr)“, glauben. In Romanform, genauer: in Briefen an einen imaginierten Freund habe Huch ein „Lebensthema“ entfaltet. Entsprechend habe auch seine eigene „Begegnung mit Rosenstock 1913 auf dem Boden des,Romanthemas`“ stattgefunden, mit Blick auf die unterschiedlich anverwandelte Geschichte der Philosophie und Theologie also -- gemeint ist das viel zitierte „Leipziger Nachtgesprach“ uber das Verhaltnis von Christenund Judentum --, wahrend der „Briefwechsel 1916 uber das,Lebensthema`“ ging [2. Band I/1, S. 352], wie man als Christ oder als Jude sein Leben fuhren kann.
Huchs Buch ist vielleicht gerade deswegen „als fur die Lutherforschung vor 1920 ebenso bedeutsam gehalten [worden] wie die gleichzeitigen Luther-Aufsatze von Karl Holl“, [3. S. 440] mit Bezug auf H. Bornkamm. weil es einer zeitgeistkonformen Aktualisierung von dessen Grundgedanken bedurfte, um die sog. Luther-Renaissance einzuleiten. Vgl. H. Assel [4]. Dass hier ein „Lebensthema (,Natur und Geist` weil Weib und Mann)“ mit dem „Romanthema (Luzifer und der Handelnde)“ [2. Band I/1, S. 352] Das Deutungsschema „Weib und Mann“ zieht sich in Huchs Buch durch, ebenso wie das des Luzifer als Gott entgegengesetztes, personifiziertes Prinzip, das eine eigene „Wurde“ habe [1. S. 41]. verknupft wurde, hat Huch eine Spur gelegt, der folgend man in der Nachkriegszeit Luthers Anthropologie neu entdecken konnte -- als eine solche, in der die immer dominanter gewordene Frage nach der Existenz des Menschen schon eine Rolle spielt. Doch wie zeitgeistkonform Huchs durchgehend pantheistisches Deutungsmuster auch gewesen sein mag: Rosenzweig erblickt darin ein Problem, das er anderen -- seiner Mutter etwa -- nicht zumuten will, kame doch aus Huchs „Luther“ ohne ein Wissen um den ethischen Monotheismus der Bibel „nur ein Heidentum mit obligaten Bibelspruchen heraus[.]“ [2. Band I/1, S. 352].
Wenn dieses Buch nun aber trotzdem „von unserer Sache“ [2. S. 341] handelt, wie es im Brief an R. Ehrenberg heiBt, dann konnte gemeint sein, dass es die Einsicht, auf der der „Stern“ als „System der Philosophie“ beruht, schon vorweggenommen hat: nicht mehr gibt die Philosophie dem Philosophen die Form vor, in der er zu denken hat -- so wird im „Stern der Erlosung“ Der „Stern der Erlosung“ findet sich in GS II [5]. Das dreigeteilte Werk wird im Text mit „Stern I--III“ zitiert. die Hegelsche exemplarisch beschrieben --, sondern der Philosoph ist zur „Form seiner Philosophie“ geworden [2. Band I/1, S. 485]; [Brief an R. Ehrenberg v. 1.12.1917] mit Bezug auf V.v. Weizsackers Systembegriff. das hat Rosenzweig exemplarisch an Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche gezeigt. Ein gutes halbes Jahr spater wird er -- wieder in einem Brief an R. Ehrenberg -- die Grundlinien des Zusammenhangs von Gedanken skizzieren, die dann der „Stern“ entfaltet; zu Recht nennt man diesen Brief auch dessen „Urzelle“ [Brief an R. Ehrenberg v. 18.11.1917]..
Anders gesagt: „Wenn das,Ganze` nicht mehr Inhalt des Systems ist, dann muss es eben Form des Systems sein; oder anders gesagt: die Ganzheit des Systems ist nicht mehr objektiv, sondern subjektiv“ [2. Band I/1, S. 485] -- eben wie in einem Roman. M.a.W. habe Huch den „ganzen“ Luther in der Form ihrer eigenen pantheistischen Weltsicht zur Darstellung gebracht [2. Band I/1, S. 341]. Rosenzweig hat im „Stern“ an die Stelle dieses Deutungsmusters seine (Schelling folgende) Philosophie der Offenbarung gesetzt -- als das „Romanthema“ der biblischen Narrationen, mit Bezug auf die er sein „Lebensthema“ eines religiosen Existentialismus aus den Quellen des Judentums finden und ausfuhren wird.
Dass Huchs Buch „mit dem geschichtlichen Luther...wenig zu tun haben“ mag [Brief an R. Ehrenberg v. 23.2.1917]. [2. Band I/1, S. 352], ja scharfer noch an Hans Ehrenberg, den theologischen und philosophischen Lehrer, dass er „an ihren [Huchs] Luther... gar nicht [glaube], obwohl ich ihr die Fehler nicht nachweisen konnte; ihr historisches Stilisieren ist Retuschieren einer Fotografie statt Zeichnen eines Umrisses“ [Brief an H. Ehrenberg v. 12.4.1917]. Spater wird er schreiben: „Vom Buch der Huch [Der Sinn der Heiligen Schrift, Leipzig 1919] bin ich ganz angetan, viel bedingungsloser als vom Luther. Luther tat sie doch im Grunde keine Gerechtigkeit an, aber der Bibel wird sie vollkommen gerecht“ [7. S. 629] (Brief an R. Ehrenberg v. 14.5.1919). [2. Band I/1, S. 388], hat Rosenzweig nicht davon abgehalten, es zu loben -- und der Autorin im April 1924 den „Stern“ zukommen zu lassen. Der „Dank., den ich Ihnen schulde“, mag sich eben auf die Entdeckung des Zusammenhangs von „Romanthema“ und „Lebensthema“ beziehen, den Rosenzweig seinerseits in seinem Hauptwerk zur Darstellung bringen wird -- nur dass er nicht mehr wie Huch „den Juden seit dem Jahr Null die Rolle des schwarzen Mannes in der Weltgeschichte spielen“ lasst [Brief an R. Huch v. April 2024]. Rosenzweig mag an das gedacht haben, was Huch im 7. Brief uber die Juden geschrieben hat, sie seien „das Volk der Dekadenz,kat exochen`“, sie mussten „an Christus glauben, ihr Schicksal ist es, in der Zerstreuung zu leben, in anderen Volkern aufzugehen.“ Es sei ein Irrtum, „aus einer grofien Vergangenheit auf eine grofie Zukunft [zu] schliefien“, wie schon Luther sagte: Gott sei „bei den Juden gewesen; aber hin ist hin, sie haben nun nichts.“ [1. S. 66]. Vgl. aber auch den fur einen heutigen Leser seiner Volkstumelei wegen schwer ertraglichen 17. Brief, in dem Huch ihren imaginierten Gesprachspartner -- ihr alter ego? -- einen „geborenen Antisemiten“ [1. S. 182] nennt und das Fazit zieht, „im Grunde gibt es jetzt keine Juden mehr.: was an ihnen lebendig war, ist in anderen Volkern aufgegangen“ [1. S. 189]. Es scheint, als antworte Rosenzweig eben darauf, wenn er schreibt: Der Jude sei „seit dem Jahr Null. welthistorisch unsichtbar geworden, also gewiss von aufien gesehen, schwarz`; aber von innen sieht es anders aus.“ [7. S. 957]. [7. S. 957], sondern von seiner Entdeckung des Judentums als Wurzel, Gesprachspartner und Korrektiv des Christentums Rechenschaft gibt: auch und gerade des protestantischen, das sich auf Luther bezieht.
Im Folgenden suche ich zu zeigen, dass sich Rosenzweig schon im „Stern“, vor allem dann aber anlasslich der Neuubersetzung der Hebraischen Bibel seinerseits mit Luther auseinandergesetzt hat -- und nun auch mit Blick auf dessen eigenes Schrifttum (anhand der „Clemen-Ausgabe“ [2. Band 1, S. 341]). Dass ihm hierbei Huchs Buch immer noch wegweisend geblieben ist, lasst sich an deren Intention ablesen, „in unserer Zeit... festzustellen, was wir uns eigentlich bei Luthers Worten denken konnen und sollen.“ [1. S. 10]. Luther habe die „Idee“ vom
Menschen, semen Moglichkeiten und seiner Begrenztheit, seinem Scheitern gehabt, aber vielfach hatten ihm noch die „Begriffe“ gefehlt, die die „alten, gelaufigen Symbole“ einem gegenwartigen Bewusstsein in ihrem Sinn hatten plausibel machen konnen (alle Zitate: S. 10). Diese Herausforderung wird Rosenzweig aufnehmen, indem er zentrale Themen Luthers im Medium seiner Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus bearbeitet, um ihnen einen neuen, dialogischen Sinn im Kontext des christlich-judischen Gesprachs zu verleihen. Zunachst aber soll dem Verstandnis Luthers auf dem Hintergrund heutiger Forschung die Aufmerksamkeit gelten.
Luthers neuer Glaube: eine Skizze
Seine Neuorientierung im religiosen Selbstverstandnis beruhte auf einer Entdeckung individueller Subjektivitat, die im Sinn der Metaethik des „Stern“ nicht in den allgemeinen Strukturen dieser Welt aufgeht (und fur den Reformator auch in den durch die damalige Kirche vorgegebenen Lebensnormen und -formen nicht): d.i. eines der Themen, die Rosenzweig aufnehmen und mit denen er sich im „Stern“ auseinandersetzen wird.11 Aufgrund des nicht verrechenbaren Kerns im Menschen, den er „Selbst“ nennt, vermag das Ich uberhaupt erst laut zu werden, indem es „ich aber“ sagt. Eben in diesem Sinne wird im Offenbarungskapitel der beruhmte Satz zitiert, den Luther am 18.4.1521 vor dem Reichstag zu Worms ausgesprochen haben soll: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“ [5. S. 193] („Stern 11“). Die Reformation in Deutschland hob an mit diesem Lautwerden des unvertretbaren Gewissens, und stellte auf diese Weise die „universelle Allgemeinheit der Kirche“ in Frage [8. S. 436] (Der Jude in der christlichen Kultur (1917)). Rosenzweig ist aber Dialektiker genug, um es nicht bei dieser ersten Bezugnahme zu belassen. In der Einleitung zu „Stern III“ heiBt es dann, nun mit einem kritischen Akzent: Das „Hier-stehe-ich“ bezeichne Luthers Standpunkt, der zwar darauf beruhe, dass die Seele von Gott erweckt sei, aber doch eine „Vereinzeltheit“ bedeute [5. S. 298] („Stern III“, Einleitung).
Moglich wurde Luthers Entdeckung individueller Subjektivitat durch ein Neuverstehen von Gottes rechtfertigender Gnade und Barmherzigkeit allein aus dem Glauben (sola fide). Mit der schon angesprochenen Gewissenserfahrung ist sein Glaubensbegriff aufs engste verknupft: die Kehrseite dessen, dass dieser durch „Werke“ nicht hervorzubringende Glaube sich gegen die „Heilswerke der Kirche“ richtete [8. S. 436], ist eben das neue religiose Selbstverstandnis. In diesem Sinne hat Karl Holl den auf Luther sich berufenden Protestantismus insgesamt als eine „Gewissensreligion“ bestimmt [9].
Der Glaube, auf den allein es nun ankommen soll, hat aber eine subjektive und eine objektive Seite: als fides qua creditur ist er das Vertrauen, in dem der Mensch Auch das in der „Metaethik“ prominent zitierte Heraklit-Wort, „sein Ethos... [sei] dem Menschen Daimon“ ([5. S. 77] vgl. [1. S. 31]) und die Unterscheidung, „das Wesen des Ich... [sei] unendliches Wollen, das Wesen Gottes [aber].unendliches Konnen“ [1. S. 60], finden sich schon bei Huch. sein ihm von Gott verliehenes Leben fuhrt, ohne dass eine „Werkgerechtigkeit“ ihm hier helfen konnte, als fides quae creditur halt er die Gegenstande des Glaubens fur wahr, wie sie im Credo zusammengefasst sind. Zu diesen Gegenstanden gehort vor allem der Glaube an Christus als den geistigen bzw. geistlichen Orientierungspunkt der Versohnung des Menschen mit Gott im christlichen Verstandnis: solus Christus, und d.h. ausschlieBlich mit Blick auf ihn als die „personifizierte Idee des guten Prinzips“ [10. S. 63]. soll der Glaube seine objektive Orientierung halten. Wir werden sehen, dass und wie sich Rosenzweig auf diese beiden Seiten des Glaubensbegriffs beziehen wird.
Zu verknupfen war dieser Glaube als „seelisch gedankliches Prinzip“ [8. S. 436] des Protestantismus mit der weiteren Einsicht, dass der Mensch sola gratia mit Gott versohnt wird. So hat Luther im religiosen Verhaltnis erfahren, dass erst die Umkehr aus eigener, erkannter Sunde und die Versohnung mit Gott den Menschen eigentlich zum Individuum macht. Es ist diese (von Hermann Cohen im Spatwerk mit den Propheten erschlossene) Erfahrung, mit der Luther in seiner fruhen Psalmen-Vorlesung rang, zu einer Zeit, als er „noch im Kloster [lebte] und... von der klosterlichen Situation gepragt“ war [11. S. 73]. Hier stellte er die Frage „wie kriege ich einen gnadigen Gott?“ Und hier war fur Luther „die Anerkennung der eigenen Sundhaftigkeit... [noch] mit der [zwanghaft empfundenen Forderung des] Gerechtwerdens verbunden, nicht als Voraussetzung... sondern als unablosbare Begleiterscheinung“ [11. S. 78] Darin, dass die Versohnung des Menschen mit Gott den Kern der Religion ausmacht, stimmt Cohen mit Luther uberein..
Sein neuer Glaube sucht seine Vergewisserung nun aber durch die Auslegung der Schrift (sola scriptura). Luther entwickelte eine Hermeneutik des Schriftsinns, die sich von dem uberlieferten Modell auf charakteristische Weise unterscheidet [12. S. 55--58].
Der historische Wortsinn wurde auf den prophetischen bezogen, der auf Christus zulauft, doch dieser blieb konstitutiv an den „Literalsinn“ gebunden, der unter der Leitung der traditionellen Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“ „meist abgewertet“ worden war [11. S. 73].
Durch die Bindung an die Ursprache als Zeugnis der Geschichte blieb „der Glaube [bei Luther]...historisch verankert“ [5. S. 108] („Stern II“, Einleitung).
So vollzog sich die Entwicklung von Luthers Theologie im Medium der Schriftauslegung, bis sich umgekehrt seine theologische Leitorientierung immer umfassender auf sein Schriftverstandnis auswirkte. Im Licht der im Evangelium kondensierten Christusidee hieB Texte nach der Schrift zu verstehen, die Spannung von Gesetz (als Wirklichkeit des Lebens) und Evangelium (als befreiendes Wort aus den Zwangen der Wirklichkeit) so zu interpretieren, dass sich die Frohbotschaft als das oberste Prinzip der Auslegung durchsetzt. Auf den Spuren des Paulus und Luthers ist der Gesetzesbegriff im Sinne von Tora, Nomos und Jus dreifach zu differenzieren. Vgl. [13. S. 11--44].
Auf diesem Weg ist im protestantischen Glauben „der Begriff Christi zum Wechselbegriffe... fur,das Wort Gottes`“ geworden [8. S. 437]. Im Zusammenhang der Lehre von der dreifachen Gestalt des Gotteswortes [12. S. 47f] gewinnt das gepredigte Wort neben Christus und der Schrift eine so starke Position, dass es nun die Last des Prinzips der „Subjektivitat mit alien ihren Zweideutigkeiten“ [8. S. 436] tragen muss: jede Predigt realisiert nun das „hier stehe ich“, auch wenn sie nicht mehr vor dem Reichstag in Worms, sondern Sonntag fur Sonntag in Wittenberg gehalten wird. Ein Bild Lukas Cranachs lasst sich als Darstellung und Reflexionsmedium dieser elementaren reformatorischen Konstellation rezipieren. Auf der Predella des Wittenberger Altars ist in der Mitte der gekreuzigte Christus zu sehen. Auf ihn verweist von der rechten Seite, auf der Kanzel mit der aufgeschlagenen Bibel stehend, der predigende Luther. Und auf der linken Seite rezipiert die Gemeinde das neue Verstandnis des Glaubens, der nun an das solus Christus gebunden ist.
SchlieBlich -- und d.i. fur Rosenzweigs Anverwandlung Luther'scher „Ideen“ (s.o.) relevant -- wirkte sich der auf Cranachs Bild reprasentierte Zusammenhang auch auf die Verhaltnisbestimmung von Glaube und Vernunft aus. Es kam Luther darauf an, dass der ganze in der Zeit lebende Mensch, bestehend aus Seele und Leib, sich „vor Gott“ befindet, coram Deo, womit er in vollem Bewusstsein der entsprechenden hebraischen Wendung „vor dem Angesicht“ mitdachte [11. S. 75]. Dem Zeugnis der Bibel folgend wird der Mensch in diesem Gegenuber von Gott angesprochen, „durch die Anrede Gottes in Gesetz und Evangelium“ aber wird Luther zufolge „das Wesen des Menschen“ konstituiert [14. S. 359]. Nimmt man dies ernst, so reicht es nicht hin, den Menschen als animal rationale zu bestimmen, das naturlicherweise schon mitbrachte, was erst durch die Gottesbeziehung entstehen kann.
Demgegenuber fuhrt die Erfahrung, sich „vor Gott“ zu befinden und von seinem Wort angesprochen zu werden, zu einem „neuen Modell der Vernunft“, wie Luther es „auf den Plan gefuhrt“ hat [14. S. 360]. Es ist eine aufgrund ihrer Bindung an die Sprache auf Kommunikation angewiesene Rationalitat: Sprachvernunft, die das Sprechen und Horen nicht als „Konzession an die Mangelhaftigkeit unsrer... Verstandigungsmittel“ begreift [15. S. 387] sondern als konstitutiv fur die Vernunftigkeit der Vernunft selber. Schon fur Luther heiBt „Vernunft denken... die Sprache, das Gesprach denken“, um es mit Hamann zu sagen [17. S. 32].
Rosenzweigs „neues Denken“ als Deutungsrahmen fur die Theologie Luthers
In die Perspektive Rosenzweigs gestellt zeigt sich Luther nun (erstens) als Form seiner Theologie. Schon er hatte seine Theologie als ein „Netz von Denkund Glaubenserfahrungen“ konzipiert [18. S. 8], das auf seinem subjektiven Standpunkt beruht. Entsprechend kann man bei ihm eine Standpunkt-Theologie finden, in der Person, Denken und Werk untrennbar verbunden sind.
Die Situiertheit des Menschen in der Welt, in der er lebt, gehort aber (zweitens) zu den Voraussetzungen eines Sprachdenkens, das -- von Rosenzweig systematisch entfaltet -- sich in seinen grundlegenden Momenten schon bei Luther nachweisen lasst. Als „Sprach-Denker“ dachte, schrieb und sprach er -- rhetorisch brillant -- meist fur jemanden, d.h. er ubersetzte im Sinne Rosenzweigs, fur den das „Dolmetschen“ immer auch ein Uber-setzen zum andern hin ist. Rosenzweig hat dafur die Metapher des „Bruckenschlags“ verwendet ([15. S. 386] = [16. S. 139--161, 150] [Das neue Denken]). Vgl.: [19. S. 141]. Ein kurzer Blick auf die Gattungen, in denen dieser Reformator sich zu Wort meldete, genugt: Predigten, Sendbriefe, Tischreden und freilich nicht zuletzt die Bibelubersetzung, kurz: gelegentliche, auf bestimmte Situationen bezogene AuBerungen bestimmen das Bild, das die Ausgaben von Luthers Schriften bieten. Die enorme Wirkung dieses Mannes beruhte aber auch darauf, dass er stets den Erschutterungen der lebensweltlichen Vertrautheiten, wie wir heute sagen wurden -- und daran war auch schon seine Zeit nicht arm --, mit seinem rhetorischen Vermogen zu begegnen verstand.
Drittens ist ein Denken, das sich wirkliches Sprechen und Horen voraussetzt, weder durch die scholastische Aristotelesinterpretation zu begrunden, mit der Luther sich kritisch auseinandersetzt, In der Einleitung zu „Stern II“ nimmt Rosenzweig auf Luthers Kampf „gegen,Aristoteles`“ Bezug [5. S. 108]. Dessen Kritik richtet sich vor allem darauf, „dass die Vernunft des Menschen... den Glauben des Evangeliums verfalscht hat.“ [17. S. 27]. noch mit den Philosophien des Deutschen Idealismus, denen Rosenzweig den Fehdehandschuh hinwirft. Klammert man diese historische Differenz ein, so lieBe sich sagen: Luthers (im Ubrigen leicht zu verfehlende) Vernunftkritik gewinnt mit Hilfe der Unterscheidungen Rosenzweigs an eigener Statur, wie man andererseits in Luther einen Vorlaufer der Kritik der „Philosophie des All“ zu Beginn des „Stern“ sehen kann. Schon fur Luther galt, dass „der theologische Inhalt... eine neue Sprache, ein neues Denken“ braucht, weil die „neue Sprache des Glaubens“ sich „von der ratio des alten Menschen“ unterscheidet [17. S. 57]. So macht auch die von Rosenzweig dargestellte „Kommunikation Gottes mit dem Menschen“ deutlich, wie die „Gemeinschaft Gott, Mensch und Welt ursprunglich neu bestimmt werden“ kann. Denn weder „die Dinge noch erst recht der Mensch hat seine Wahrheit in sich oder durch sich, sondern allein als Momente dieser Kommunikation“ [17. S. 28].
Dass Rosenzweig (viertens) Luthers Konzeption der Sprachvernunft in ihrer theologischen Pointe durchaus verstanden hat, lasst sich an einem Brief an H. Ehrenberg vom 26.9.1910 zeigen: „Gottes,naturas contueri` [Naturen betrachten] uberlieB Luther der Spekulation,,beneficia eius cognoscere` [seine Wohltaten erkennen] nahm er fur sich in Anspruch“ [2. S. 111]. Fur Luther wie fur Rosenzweig geht es um eine Verschiebung der Antwort auf die Frage nach der Gotteserkenntnis von der spekulativen, theoretischen Ebene auf die existentielle einer Lebensorientierung im Grundvertrauen auf Gott. So kann man das erste (Gottes,naturas contueri`) auf den Gottesbegriffs beziehen, wie Rosenzweig ihn in „Stern
I“ bestimmt, ohne dass sich dieser „metaphysische“ Gott schon seinerseits dem Menschen zugewandt, ihn aus sich heraus und zur Verantwortung gerufen hatte.
Das zweite (,beneficia eius cognoscere`) findet sich dann im Offenbarungskapitel von „Stern II“ durchgefuhrt: es kommt auf die Gottesbeziehung an, die dem biblischen Narrativ zufolge dadurch eroffnet wird, dass Gott den in sich verschlossenen Menschen wohlwollend unterbricht. Im Dialog mit Gott entsteht das menschliche Ich als ein „lautgewordenes Nein“ [5. S. 193] auf neue Weise im Du: es findet zur Bejahung seiner selbst vermittels des Anderen. Es lernt sich als geliebte Seele zu verstehen. Diese zwischenmenschliche Erfahrung wird von Rosenzweig nun aber metaphorisch auf das Verhaltnis von Gott und Mensch ubertragen. Indem er den Offenbarungsdialog im Zentrum des „Stern“ zugleich als ein Sprechen der Liebe und als Auslegung der Sprache der Liebe im „Hohen Lied“ zur Darstellung bringt, gibt er seine Antwort auf Luthers Frage nach dem „gnadigen Gott“.
Es kommt darauf an, Gottes Wohltaten zu erkennen: diese Grundeinsicht Luthers lasst sich (funftens) spezifizieren mit Blick auf die Frage, wie der Mensch es lernen kann, mit der „Sunde“ zu leben, die er auch dann nicht loswird, wenn er die Erfahrung der Rechtfertigung gemacht hat (um mit Luther zu sprechen), oder die, geliebt zu sein (um mit Rosenzweigs Offenbarungskapitel zu sprechen). In diesem zentralen Text seines Hauptwerks integriert er auch die Lehre simul iustus et peccator.16 Fur Luther ist die Sunde wesentlich dadurch bestimmt, dass der Mensch in sich selbst verschlossen ist, stumm bleibt, selbstbezogen und einsam (incurvatus in seipso). In diesem Zustand kann er die eigene Sundhaftigkeit nicht erkennen. Das wird moglich erst durch die Erfahrung, als Sunder vor Gott gerechtfertigt zu sein. Folgt man der systematischen Entwicklung des Gedankens von Rosenzweig, so wird in Analogie zu diesem Grundvorgang in der Beziehung zwischen Gott und Mensch auch das metaethische Selbst aus „Stern I“ erst durch die Unterbrechung „von auBen“ durch das Wort des Andern, sei es Gottes, sei es des anderen Menschen, zur sprechenden Seele. Wie „Stern II“ es beschreibt, wird das moglich durch eine innere Umkehr des metaethischen Selbst. Erst im Ruckblick erscheint dessen Stummheit, Verschlossenheit und Selbstbezogenheit als ein sundhafter Zustand, den erst der Liebesdialog der Offenbarung als solchen sichtbar und erkennbar macht.
Wie die ihm zeitgenossische protestantische Theologie etwa Ritschls oder Herrmanns geht Rosenzweig davon aus, dass der Mensch auch nach der Erfahrung der Offenbarung Sunder bleibt, weil er -- auch als sprechende Seele -- sein Selbst nicht loswird, sich nun aber gerade so von Gott geliebt weiB. Diesen Sinn des dialektischen Deutungsmusters simul iustus et peccator integriert er in seine Beschreibung des Liebesdialogs [1. S. 23], ohne hierbei allerdings von „Rechtfertigung“ zu sprechen -- die Terminologie der Sundenvergebung und Versohnung entspricht vielmehr dem Wortgebrauch aus Cohens Spatwerk. Vgl. dazu: Daniel Herskowitz, Franz Rosenzweig's account of Revelation in light of its Protestant Background, erscheint 2023 in: Harvard Theological Review.
Zugleich aber korrigiert er die -- noch durch augustinische Weichenstellungen gepragte -- Anthropologie Luthers um ein kleines. Das Problem, dass „wir... sundigen [mussen], solange wir hier sind“ [1. S. 12], wird von Rosenzweig aufgehoben dadurch, dass er den Offenbarungsdialog als Ursprung und Anfang einer Gottesbeziehung fasst, die sich auf die gesamte Lebensfuhrung dessen auswirkt, der eben nicht nur die Worte Jesajas sich gesagt sein lasst Furchte dich nicht, denn ich habe dich erlost (Jes 43, 1), sondern auch das in die Verantwortung rufende Wort Wie er dich liebt, so liebe du [5. S. 228]. In der Geschichte der Beziehung zwischen Gott und Mensch, in der Juden und Christen vor Gott „Arbeiter am gleichen Werk“ sind [5. S. 462], ist die „Erbsunde“ [1. S. 15] nicht mehr der schicksalhafte Schuldzusammenhang des Lebendigen, an den der Mensch gebunden bleibt, Cohen zufolge sind Erbsunde und Freiheit unvereinbar [20. S. 287]. Es sei „das Grundubel des Mythos..., dass die Sunde Erbsunde sei“ [21. S. 176] (Die Lyrik der Psalmen). sondern dieses mythische Gestern ist die Vergangenheit, in der die Seele noch ohne Liebe war [5. S. 200]. Entsprechend ist der Wille nicht mehr „ein Lasttier, das der Satan reitet“ [22. S. 98], sondern frei geworden zur Liebestat, die Rosenzweig von der bloBen Zwecktat unterscheidet [vgl. 5. S. 240]. Das entspricht der Freiheit der Christenmenschen, die sich als „eben noch zu Herren aller Dinge Freigesprochene gleich wieder als jedermanns Knecht“ wissen...“ [5. S. 381].
Diese Freiheit kommt sechstens mit der subjektiven Seite von Luthers Glaubensverstandnis uberein, der fides qua creditur, die Rosenzweig sich durchweg anverwandelt hat. Das ist besonders schon ganz am Ende seines Hauptwerkes zu sehen, wo er mit Bezug auf eine Stelle im Propheten Micha [6; 8] schreibt: „Einfaltig wandeln mit deinem Gott -- nichts weniger wird da gefordert als ein ganz gegenwartiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein groBes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift Es ist das Allereinfachste und grade darum das Schwerste. Es wagt jeden Augenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfaltig wandeln mit deinem Gott -- die Worte stehen uber dem Tor“, das vom Buch „ins Leben“ fuhrt [5. S. 472]. Dem „Romanthema“ des Buches und dem „Lebensthema“ der Alltagspraxis (s.o.) gemeinsam ist aber die Frage, wie ein um verantwortliche Lebensfuhrung bemuhter Mensch sich in der Gewissheit halten (bzw. wie er in ihr erhalten werden) kann, dass nicht alles umsonst ist, sondern dass es gut wird. Mit dem „Vertrauen“ gibt Rosenzweig am Ende des „Stern“ seine eigene Antwort.
Doch damit hat er sich nur die subjektive Seite des Luther'schen Glaubensverstandnisses anverwandelt. Die objektive hat er fur das Christentum zwar respektiert, musste sie aber nicht fur sich selbst ubernehmen. Dass er die andere, christliche Uberzeugung anerkannt hat, tritt in einem Brief an Margrit Rosenstock vom 16.3.1918 pragnant hervor, wo er in der christologischen Zuspitzung von Luthers Theologie ein Analogon zum judischen Monotheismus erblickt: „Dem judischen,einzig` entspricht das,Christus allein`, das,sola fide` der
Reformation. Um dessentwillen ist das Christentum,Monotheismus`“ [23. S. 61]. Luther hat das „solus“ etwa im „Sendbrief vom Dolmetschen“ verteidigt. Vgl.: [24. S. 140ff]. Diese christologische Zuspitzung betrifft die fides quae creditur: die Gegenstande des christlichen Glaubens, wie sie durch Luthers vierfachen Einsatz des „Exklusivpartikels“ solus benannt werden (s.o.). In „Stern III“ setzt Rosenzweig der christlichen fides quae creditur als „Inhalt eines Zeugnisses“ das judische Glaubensverstandnis entgegen: „Der Glaube des Juden... ist nicht Inhalt eines Zeugnisses, sondern Erzeugnis einer Zeugung. Er glaubt nicht an etwas, er ist selber Glauben; er ist in einer Unmittelbarkeit, die kein christlicher Dogmatiker fur sich je erschwingen kann, glaubig.“ [5. S. 379f]. Die problematische Dominanz dieser objektiven Seite des Glaubensverstandnisses wird aber zu den Hauptmotiven fur die Buber-Rosenzweigsche Bibelubersetzung zu rechnen sein: mit ihr sollte dem „Gesprach der Menschheit“ eine neue Wendung gegeben werden Mit der Bibel habe „das Gesprach der Menschheit... angehoben“ (Rosenzweig, Die Schrift und Luther [1926], in: [19. S. 141--166, 166] = [16. S. 749--772, 771]. Darin, dass dieses Gesprach durch Ubersetzungen fortgefuhrt wird, besteht ihre „weltgeschichtliche Bedeutung“ [16. S. 837--840] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel (1929)) = [19. S. 124--127])..
Ein siebter Gesichtspunkt hangt damit zusammen. Rosenzweig hat ein Problem darin erblickt, dass Luther die Rolle der Philosophie als „Schutzmacht“ fur „seinen Glauben... energisch ablehnte; denn eine solche Schutzmacht ist fur ihn die,Obrigkeit`; sie nahm zum Wort und seinen Verkundern die gleiche Stellung ein wie die scholastische Philosophie zur sichtbaren Kirche.“ [5. S. 119] Diese Bindung an die Obrigkeit wird zum „Schicksal des Protestantismus“ zu rechnen sein wie die neu entdeckte Subjektivitat [8. S. 436], die in der Vereinzelung des eigenen Standpunktes enden kann. Wie ist nun die „Brucke zwischen. taubblinder Selbsthaftigkeit und der lichten Klarheit unendlicher Objektivitat“ zu schlagen [5. S. 117]?
Rosenzweig antwortet auf diese Frage im Offenbarungskapitel, in dem der Name Gottes alles andere als „Schall und Rauch“, sondern vielmehr „Wort und Feuer“ ist. Die kulturanthropologische wie theologische Bedeutung des Namens gehort zum Allgemeingut der biblischen Texte, das Huch unter Berufung auf Useners „Gotternamen“ neu entdeckt [1. S. 56]. Vgl. [25]. Der „Glaube“, in dem er selbst das bekennt [5. S. 209], ist gewissermaBen eine „absolute Erfahrung“, in dem Sinn, in dem er zugestanden hat, man konne sein „System der Philosophie“ einen „absoluten Empirismus“ nennen [15. S. 398; 16. S. 161]. Doch auch von dieser Erfahrung lasst sich mit philosophischen Mitteln Rechenschaft geben. Die Erfahrung des Wortes Gottes, von der Luther ausgeht, und entsprechend die in der Bibel bezeugte Erfahrung der Offenbarung, von Gottes Wort angesprochen zu sein, lasst sich nicht aus apriorischen Bedingungen ableiten, sondern nur erzahlen, wie das „Stern II“ unternimmt. Insofern diese Erzahlung sich aber selbst klar wird uber die Voraussetzungen, unter denen sie die leitenden Begriffe zu ihrer Darstellung gebildet hat, bedarf auch sie einer apriorischen Reflexion. Denn von Offenbarung, wie auch von Schopfung und Erlosung zu handeln setzt freilich ein Verstandnis Gottes, der Welt und des Menschen voraus, wie „Stern I“ es entfaltet.
Die in „Stern II“ erzahlte Erfahrung begrundet nun aber auch den Ausweg aus der „Vereinzeltheit“ des subjektiven Standpunkts, dem „Nicht-anders-konnen“ des „Hier-stehe-ich“ Luthers, das seinerseits auf einer Erweckung der Seele durch Gott beruht. Auch ein protestantisch gepragter Glaube kann der Antwort Rosenzweigs folgen, dass das gemeinsame Einstimmen in das Gebet um das Kommen des Gottesreiches Christen und Juden auf die Objektivitat des Gottesnamens ausrichte [5. S. 298f]. Doch diese Gemeinsamkeit ist bei Luther gebrochen durch die strikt christologische Perspektive auf das Alte Testament, welche sich fur Rosenzweig in einem „Glaubenszwang“ auswirkt, der bei Luther „alles wirkliche Ubersetzen der Schrift bis ins einzelne“ beherrscht [19. S. 163; 16. S. 768f].
Rosenzweigs Wurdigung von Luthers Deutscher Bibel
Nicht nur fur Luthers Religiositat hat er sich interessiert, sondern auch fur die Wirksamkeit des Reformators auf die allgemeine Kultur. Das ist schon an den Stellen in den unter dem Titel „Globus“ zusammengefassten Schriften „Okumene“ und „Thalatta“ zu sehen, die auf den Protestantismus als Faktor der politischen Entwicklung Europas zu sprechen kommen. An einer Stelle ist vom „Doppelwerk Machiavellis und Luthers“ die Rede, „die Loslosung des Staats aus der okumenischen Katholizitat der Kirche“ vollbracht zu haben [16. S. 314ff.]. An einer anderen Stelle wird die Rolle Englands hervorgehoben, durch die „das Werk Luthers... die Wandlung ins,Demokratisch-Individualistische`“ erfuhr; erst so habe „der Protestantismus aus einer inneren Glaubensendlich doch noch zu einer weltgestaltenden Macht“ werden konnen [16. S. 323]. Zu diesen politischen Erwagungen treten nun nach 1917 im „Stern“ starker auf Kultur und Religion konzentrierte Thesen (vgl. meinen Beitrag: [26. S. 345--374]).
Weil sie „in alle Spharen des Lebens ein[gegriffen]“ habe, sei die „weltgeschichtliche Wirkung“ der Bibel durch „Luthers Ubersetzungstat“ befordert worden (vgl. [27. S. 124] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel); [16. S. 837]). Die „Weltlichkeit“ seiner Deutschen Bibel habe maBgeblich dazu beigetragen, dass „die Reformation. das erste deutsche Ereignis“ werden konnte, „das in die Welt hinausgewirkt hat und nicht wieder aus ihr geschwunden ist“ [28. S. 205] (Nachwort zu Jehuda Halevi). In diesem Sinne kann Rosenzweig auch von einem „sprachlichen Eroberungszug[.]“ [28. S. 204] (Nachwort zu Jehuda Halevi), sprechen, den Luther mit seiner Ubersetzung angetreten habe. Seine Weltlichkeit verdanke das Christentum uberhaupt aber seiner Bindung an die „judische Bibel“ [27. S. 125f] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel); [16. S. 837f] -- dieser erste Gesichtspunkt der Wurdigung ist angesichts der Rosenzweig zeitgenossischen Erneuerung des Marcionismus durch Adolf von Harnack keineswegs harmlos, hatte Marcion doch die geschaffene Welt abgewertet, um ganz im Sinne der Naherwartung des Neuen Testaments allen Akzent auf die neue Schopfung durch den Geist zu legen: „Christliche Kirche, christlicher Staat, christliche Wirtschaft, christliche Gesellschaft -- all das war und ist vom NT aus nicht zu begrunden, weil dieses die Welt schlechthin in der Krise, vor das Gericht gestellt sieht; im Gegensatz zu seinen pointierten Paradoxien bot die aus der ganzen Breite eines Volkslebens und in der ganzen Breite einer Nationalliteratur erwachsende judische Bibel mit ihrer... tiefen Schopfungsglaubigkeit tragfahigen Grund fur ein Bauen in und an der Welt.“ [27. S. 125] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel); [16. S. 838]. Vor der Gefahr einer Vergeistigung und Entweltlichung vermag das Christentum also die Bindung an die judische Auslegung und mit ihr an das Leben der judischen Gemeinschaft zu bewahren: in dieser Bindung kommt es fur das Christentum auf die Regulation der Gefahren an, die Rosenzweig idealtypisch beschreibt: es sind die Gefahren einer „Spiritualisierung des Gottes-, Apotheisierung des Mensch-, Pantheisierung des Weltbegriffs“ [5. S. 447]. Fur die „Apotheisierung des Mensch-“ und die „Spiritualisierung des Gottes[begriffs]“ findet sich ein sprechendes Beispiel bei Huch in: [1. S. 75]. Die „Pantheisierung“ ist ein durchgangiges Deutungsmuster in diesem Buch.
Zweitens ist die Wirksamkeit von Luthers Deutscher Bibel aber dadurch begrundet, dass seine „Ubersetzung... auf die gesprochene Sprache des Volkes“ zuruckgriff [29. S. 136] (Die Schrift und das Wort (1925)); [16. S. 777--783]. So konnte die Bibel verstandlich werden aufgrund ihrer sprachlichen Gestalt, daruber hinaus aber auch durch ihre mogliche Verbreitung an jedermann [19. S. 142] (Die Schrift und Luther); [16. S. 750]. Ihr Verstandnis war nicht mehr nur den des Hebraischen, Griechischen und Lateinischen kundigen Spezialisten vorbehalten, den Monchen und Priestern, sondern allen moglich, die sich im Vollzug eigener Lekture ihres Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedienen wollten. So wurde die Bibelubersetzung zur materialen Grundlage, auf der der reformatorische Grundsatz eines „Priestertums aller Glaubigen“ verwirklicht werden konnte.
Doch nicht nur „zum Grundbuch... einer Kirche“ und zum „Trager ihrer Sichtbarkeit“, „Der protestantischen Kirche ist Luthers Ubersetzung das geworden, was die katholische Kirche in einem reichen System von Institutionen besitzt: der Trager ihrer Sichtbarkeit“ [19. S. 150; 16. S. 757]. sondern auch zu dem „der nationalen Sprache selber“ ist die Deutsche Bibel geworden [19. S. 145; 16. S. 753]. D.i. ein dritter Gesichtspunkt. Sie ist zum „nationalen Besitz“ geworden [19. S. 152] (vgl. [7. S. 794] (Tagebucheintrag vom 16.6.1922). Luthers Muhe, den hebraischen Text in gemeinsamer Arbeit mit Philipp Melanchthon und anderen Gelehrten in Wittenberg zu verstehen und ins Deutsche zu ubertragen, wird von Rosenzweig ausdrucklich gewurdigt. Nennen lasst sich auch der „Hebraist Matthaus Aurogallus“ [30. S. 261]. Luther wollte „der hebraischen Sprache Raum lassen“ [19. S. 143; 16. S. 751] (zit. Luther). Damit hat er den Boden dafur bereitet, dass auch das reformatorische Christentum „Synthese[n] mit der Welt“ eingehen konnte [27. S. 126; 16. S. 839]. Uber die Ambivalenz dieser Synthesen, wie sie von Ernst Troeltsch meisterhaft beschrieben worden sind [25. S. 202--254], bestand fur Rosenzweig allerdings kein Zweifel -- auBer der schon genannten Bindung an die „Obrigkeit“ ist der Versuch zu nennen, „aus der Enge und Fremdheit des AT in philosophische Weite oder in volkische Nahe“ zu fliehen [16. S. 839]. Auf die Aktualitat des auf Luther sich berufenden „deutschen Glaubens“ kommt Rosenzweig im Brief an Rosenstock vom 7.11.1916 zu sprechen: „Luther ubersetzt sehr schon:,Glaubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht`,,Glauben` und,Bleiben` ist eins; die Sakularisierung dieses Gedankens ist der heutige Nationalismus, der ja Imperialismus wird, um ein gutes Gewissen zu haben“ [2. S. 283]. Aber auf der Moglichkeit von Synthesen beruhen die „Kulturwirkungen des Christentums“ [27. S. 126f; 16. S. 839].
Die Begrenzung von Luthers Hermeneutik als Motiv fur Rosenzweigs Ubersetzung
Die „formbestimmende Kraft“ von Luthers „festumschriebenem Glaubensbegriff“ [19. S. 153], dessen objektive Seite, ist fur Rosenzweig problematisch geworden. Mit Bezug auf Luthers „Sondervorrede des,Deutschen Psalter`“ sei zu sehen, dass er die Stellen aufsuchte, „wo das Gesagte ganz wichtig, ganz zu uns, zu,unserem Gewissen` gesprochen ist, wo also die Schrift fur ihn, den lebendigen Christen von heute, heute lebendig ansprechendes Gotteswort, lebendige Lehre, lebendiger Trost, ist.“ Diese Stellen aufzuspuren half ihm die „Analogie des Glaubens [als] die nie versagende Wunschelrute, die ihm... [uberall dort], wo das Alte Testament,Christus trieb`, aufzuckte.“ Dort musste das Schriftwort „wortlich genommen werden und also auch in,steifer` Wortlichkeit ubersetzt“. Sonst lieB „der Ubersetzer,die hebraischen Worte fahren und spricht frei den Sinn heraus aufs beste Deutsch, so er kann`“ [16. S. 752] (zit. Luther).
„Luthers Glaube bestimmte also bis ins einzelne, wie die groBe Mittlerarbeit geschieht“ [19. S. 144; 16. S. 752]. Die hermeneutische Legitimation dafur ist aber eine Leserichtung vom Neuen auf das Alte Testament gewesen, die von einem „Erfullungs-, Uberbietungsund Universalisierungsanspruch“ [17. S. 116] ausging. Mit ihm hatte Rosenzweig es schon 1913 aufgenommen, als er von seinen christlichen Freunden die Anerkennung des Judentums als anderer Religion forderte [2. S. 132--135]. Brief an R. Ehrenberg v. 31.10.1913. Wenn man davon ausgeht, ist die Lesehaltung Luthers zu erweitern durch die Offenheit Rosenzweigs: „Wir [wissen] nicht., aus welchem Wort die Lehre und der Trost flieBen werden“, und wir „glauben, dass die verborgenen Quellen der Lehre und des Trostes aus jedem Wort dieses Buchs einmal aufbrechen konnen, und uns also zu einer neuen Ehrfurcht vor dem Wort beugen“ [19. S. 154; 16. S. 761].
Mit der den hebraischen Wortsinn „verdeutschenden“, neuen Ubersetzung, die er gemeinsam mit Buber unternahm, wollten beide zeigen, was auch in dieser -- Luther gegenuber -- anderen Leserichtung als „biblisch“ gelten kann [19. S. 149] (Die Schrift und Luther); [16. S. 756]. Dieser erneute Beitrag zum „Gesprach der Menschheit“, nun aus der Kraft der Ubersetzung eines in Deutschland lebenden Judentums, kurz bevor es von dort vertrieben werden sollte, wollte allen Lesern der Bibel Orientierung geben, auch denen, die der Tradition entfremdet sind. „Es konnte wohl geschehen, dass die vor nun hundertfunfzig Jahren begonnene Sakularisierung der Glaubensgemeinschaften noch weiter fortschreitet und Kirche und Gesetz im alten, uberlieferten
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